Autorin: Yvonne Mannsfeld (Rechtsanwältin)
Bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum (ETBI) nimmt der Täter irrig Umstände an, bei deren Vorliegen sein Handeln gerechtfertigt gewesen wäre. Er irrt somit über sachliche Voraussetzungen, die ihm ein Notwehrrecht nach § 32 StGB gegeben hätten.
Es handelt sich dabei um ein Problem auf der Schuldebene, da der Vorsatz unproblematisch gegeben ist. Er wollte so handeln und ging lediglich von einem Rechtfertigungsgrund aus, der den Vorsatz nicht entfallen lässt, sondern sein Handeln gerechtfertigt hätte. Für eine Rechtfertigung iSd § 32 StGB fehlt es idR an einem Angriff. Auf Schuldebene ist nun zu prüfen, wie der Irrtum zu behandeln ist, denn immerhin fehlte dem Täter die Einsicht Unrecht zu tun. Hier sollte der Hell-Angels-Fall als Klassiker bekannt sein (BGH NStZ 2012, 272).
a) Theorien
(1) (frühere) Vorsatztheorie
Nach dieser Theorie sei das Unrechtsbewusstsein nicht erst auf der Schuldebene zu thematisieren, sondern als Teil des Vorsatzes auf Ebene des subjektiven Tatbestandes zu prüfen. Im Fall eines ETBI, bei dem sich der Täter über tatsächliche Gegebenheiten irrt, liegt somit ein Tatbestandsirrtum gem. § 16 I 1 StGB vor, der den Vorsatz bereits entfallen lässt.
Gegen diese Meinung spricht bereits die Regelung des § 17 StGB, der zwischen Vorsatz und Schuld unterscheidet. Das Unrechtsbewusstsein als Teil der Schuld ist folglich nicht bereits iRd subjektiven Tatbestandes zu prüfen.
(2) Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale
Diese Lehre sah vor, dass die Rechtswidrigkeit einen Teil des Tatbestandes darstelle und somit nur ein zweigliedriger Prüfungsaufbau im Strafrecht zu erfolgen habe. Dieser Prüfungsaufbau bestehe folglich aus dem Unrecht, welches sich aus dem Tatbestand und der Rechtswidrigkeit zusammensetze, und der Schuld. Damit würde auch hier ein Irrtum iSd § 16 I 1 StGB vorliegen.
Wie bereits oben im Skript gesehen, ist die Rechtswidrigkeit kein Teil des Tatbestandes. Dies wird auch von dem § 32 StGB gestützt, der zwischen dem Tatbestand und der Rechtswidrigkeit einer Tat unterscheidet.
(3) Die strenge Schuldtheorie
Die strenge Schuldtheorie sieht in dem Unrechtsbewusstsein ein eigenständiges Schuldelement, ganz im Sinne des § 17 StGB. Der § 17 StGB sehe zwar keinen Fall des Irrtums vor, bei dem sich der Täter über tatsächliche Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes irrt. Nach dieser Theorie soll jeder Irrtum außerhalb des Tatbestandes von § 17 StGB erfasst werden.
Diese Theorie ist schwer begründbar, denn der § 17 StGB erfasst seinem Wortlaut nach die Fälle in denen dem Täter die Einsicht fehlt Unrecht zu tun. Für solche Irrtümer muss der Täter den Sachverhalt jedoch erst einmal erfassen. Bei einem ETBI ist dem Täter hingegen bewusst, dass er ein Unrecht begeht. Er geht lediglich davon aus, dass sein Handeln, aufgrund der (aus seiner Sicht) besonderen Lage, ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Damit ist der Fall mit dem Grundgedanken des § 17 StGB nicht vereinbar.
(4) Die eingeschränkte Schuldtheorie
Die Problematik des ETBI liegt darin, dass weder der § 16 noch der § 17 StGB auf den Fall wirklich passen. Es ist insoweit eine Regelungslücke gegeben, die auch als planwidrig anzusehen ist, da es nicht im Sinne des Gesetzgebers liegt rechtsfreie Räume zu schaffen. Weiter liegt zum § 16 I 1 StGB keine vergleichbare Interessenlage vor. Der Täter irrt sich allein in tatsächlicher Hinsicht. Die eingeschränkte Schuldtheorie schränkt – wie der Name schon sagt – daher die strenge Schuldtheorie dahingehend ein, dass der Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes nicht dem Anwendungsbereich des § 17 StGB unterliegt, sondern des § 16 I 1 StGB. Sie wendet diesen entsprechend analog an.
Die eingeschränkte Schuldtheorie führt jedoch nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis, da der § 16 I 1 StGB den Vorsatz entfallen lässt. Im Fall eines ETBI ist dem Täter jedoch genau bewusst, was er macht und er will es auch machen, mithin handelt er vorsätzlich. Er irrt nur über die Rechtswidrigkeit seiner Tat und folglich über das durch sie verwirklichte Unrecht. Daneben drohen Strafbarkeitslücken für Teilnehmer.
(5) Die rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie
Die rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie folgt einer vermittelnden Lösung, indem sie den Fall des ETBIs allein in den Rechtsfolgen dem § 16 I 1 StGB zuordnet. Das bedeutet, obwohl der Täter ein vorsätzliches Handlungsunrecht begangen hat, liegt ein Vorsatzschulddefizit gem. § 16 I 1 StGB vor. Es entfällt folglich nicht der Vorsatz als Verhaltensform auf Ebene des subjektiven Tatbestandes, sondern als Schuldform auf Ebene der Schuld.
b) Rechtsfolgen des ETBI
Nach der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie handelt der Täter folglich schuldlos und hat sich durch sein Verhalten nicht strafbar gemacht. Im Folgenden sind eventuelle Fahrlässigkeitsdelikte zu prüfen. Der Fahrlässigkeitsvorwurf bezieht sich dabei nicht auf die Tatbegehung, sondern auf den Irrtum. Das heißt, es ist zu prüfen, ob der Irrtum in der konkreten Lage vorhersehbar sowie vermeidbar für einen besonnenen und gewissenhaften Menschen gewesen wäre.
c) Der ETBI in der Klausur
Formulierungsbeispiel / -vorschlag bzw. Gedankenstütze:
(1) objektiver und subjektiver Tatbestand des einschlägigen Deliktes positiv feststellen.
(2) Rechtswidrigkeit
Das Handeln des T könnte vorliegend durch Notwehr gem. § 32 StGB gerechtfertigt sein, da er glaubte, einem Angriff durch X ausgesetzt zu sein.
[Es ist der § 32 StGB zu prüfen – kurze Darstellung der Voraussetzungen]
Der § 32 StGB setzt zunächst einen Angriff voraus.
[…]
Im Fall lag objektiv jedoch kein Angriff vor, da… (Sachverhaltsarbeit)
Die Voraussetzung des Angriffs wird ausschließlich objektiv bestimmt und ist unabhängig von der subjektiven Vorstellung des Täters. Der § 32 StGB ist mangels eines Angriffs folglich nicht gegeben. Ein Rechtfertigungsgrund lag somit nicht vor.
Weitere Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Der T handelte folglich rechtswidrig.
(3) Schuld
Allerdings könnte sich die Tatsache, dass T sich als Opfer eines Angriffs wähnte, auf die Schuld auswirken. T irrte über tatsächliche Gegebenheiten und hielt sein Handeln in der konkreten Situation für gerechtfertigt. Er war sich nicht darüber im Klaren, dass er ein Unrecht begeht. Es fehlte ihm mithin das Unrechtsbewusstsein.
Insoweit könnte ein ETBI (in den Klausuren natürlich niemals abkürzen, außer den anerkannten Abkürzungen) vorliegen. Ein solcher liegt vor, wenn der Täter irrige Umstände annimmt, bei deren Vorliegen seine Handlung gerechtfertigt gewesen wäre.
Ein ETBI ist demnach nur anzunehmen, wenn auf der Grundlage der Tätervorstellung ein Rechtfertigungsgrund gegeben wäre. Verlangt ist folglich eine hypothetische Prüfung eines Notwehrrechts aus Sicht des Täters.
Nach der Vorstellung des T …
(4) Prüfung des hypothetischen § 32 StGB aus T Sicht
[…]
Folglich lag aus der Sicht des T ein Rechtfertigungsgrund gem. § 32 StGB vor.
(5) Rechtliche Behandlung des ETBI
Aufgrund der Tatsache, dass der T irrig eine Sachlage annahm, die sein Verhalten gerechtfertigt hätte, lag folglich ein ETBI vor. Ihm fehlte mithin die schuldtypische Gesinnung und es stellt sich die Frage nach der rechtlichen Behandlung des ETBIs. Hierzu werden verschieden Ansichten vertreten …
[Theorien darstellen – Nacheinander ablehnen und entsprechenden Streitentscheid führen. Inwieweit dieser Streitentscheid in der Klausur tatsächlich geführt werden sollte, richtet sich nach eurer Schwerpunktsetzung anhand der konkreten Klausur. Der ETBI muss nicht immer oder automatisch ein Schwerpunkt der Klausur sein! ]