Autorin: Yvonne Mannsfeld (Rechtsanwältin)
I. Sachverhalt lesen und Delikte sammeln
Bereits beim ersten Lesen sollten die einzelnen Ereignisse und zeitlichen Komponenten erkennbar in Tat- bzw. Handlungskomplexe unterteilt werden. Einzelne Tatkomplexe lassen sich idR an einem Ortswechsel, an zeitlichen Unterschieden oder anhand von verschiedenen Tatobjekten erkennen. Ein Beispiel ist das Geschehen IM Supermarkt als ein Tatkomplex und VOR dem Supermarkt bzw. auf dem Parkplatz als zweiter Tatkomplex. Schreibt bereits beim ersten Durchlesen alle möglichen Delikte, Ideen und euch einfallende Stichpunkte bzw. Probleme und Streitigkeiten auf einen Extrazettel. Unterschätzt die Stresssituation nicht. Ein einmal aufleuchtender Gedanke ist ebenso schnell wieder durch die nachkommenden Ideen oder Problemen vergessen.
II. Lösungsweg entwerfen
Am Ende des Lesens ist in eurer Ideen-Sammlung evtl. schon das eine oder andere Delikt bzw. Problem wieder durchgestrichen, weil der Sachverhalt doch ganz anders abbog als gedacht. Die Delikte, die in Betracht kommen, sind nun in eine Lösungsskizze einzuarbeiten. Zunächst ist das reine Prüfungsschema bzw. allein dessen Voraussetzungen aufzuschreiben. Erst in einem zweiten Schritt ist das Schemata mit dem Sachverhalt zu füllen. Anders besteht die Gefahr, dass schnell nach einem streitigen Punkt der Rest der Prüfung vergessen wird.
In das „nackte“ Prüfungsschema ist demnach der Sachverhalt „einzuordnen“ und hier gilt – vor allem im Strafrecht – KURZ fassen. Arbeitet bei unproblematischen Punkten mit der (+)/(-)-Technik. Schreibt euch „– Def. –“ hin, wo in eurer ausgeschriebenen Lösung später die Definition erfolgen MUSS (und im Strafrecht wird jede Definition zumindest einmal gebracht, danach kann nach oben verwiesen werden), aber eben auch erst dort. Im Strafrecht gilt: Jede Sekunde zählt.
Am Ende eurer Lösungsskizze denkt an die Konkurrenzen. Zum einen treten manche Delikte iRd Gesetzeskonkurrenz zurück, sodass diese in eurer Lösung entsprechend kurz oder sogar nur iRd Konkurrenz darzustellen sind. Das kann ungemein Zeit sparen und zeigt, dass ihr sicher Konkurrenzen anwenden könnt. Zum anderen endet sowohl jeder Tatkomplex als auch jede gute Strafrechtsklausur immer mit einem Gesamtergebnis, in dem die Konkurrenzen klargestellt werden.
Lehnt euch am Ende eurer Lösungsskizze noch einmal zurück, atmet durch und fragt euch: Findet ihr euer Ergebnis richtig? Ist es mit eurem Gerechtigkeitsgefühl vereinbar oder stoßt ihr euch noch an irgendeinem Punkt?
III. Schwerpunkte setzen
Jede Examensklausur arbeitet neben den inhaltlichen Herausforderungen vor allem auch mit dem zeitlichen Druck. Ganz besonders deutlich wird dies in den strafrechtlichen Klausuren. Dementsprechend wichtig ist eine gute Schwerpunktsetzung.
Für die Schwerpunktsetzung arbeitet mit der Stufentechnik. Nehmt dafür ein „!“, „?“, „(P)“ oder ein anderes für euch funktionierendes Zeichen und stuft die Probleme/ Streitigkeiten ein. Wie z.B.:
1. Stufe „!“ = Problem in eurer Lösung erwähnen bzw. nennen, aber kurz und knackig abhaken bzw. in einem Satz darstellen und begründen. Mehr im Sinne „Hab ich gesehen; kenn ich, ist aber kein wirklich streitiges Problem“. Sie dienen vor allem dazu, Kandidaten auf den falschen Weg zu lenken und Zeit zu kosten. An ihnen sieht der Korrektor, wie gut der Kandidat Schwerpunktsetzung kann.
2. Stufe „!!“ = Schon ein größeres Problem, aber noch keinen Meinungsstreit wert. Dies folgt aus offenkundigen bzw. deutlichen Angaben, die nur zu einer Lösung führen können, dem Verwenden von Signalwörtern im Sachverhalt oder der Art des „Streites“. Es sind die Probleme, von denen der Korrektor wissen möchte, ob ihr sie könntet, wenn es mal wirklich darauf ankommen sollte. Bei diesen können im Fall von Zeitproblemen Abstriche iRd Argumentation gemacht werden, um Zeit für die wirklichen Streitentscheide zu haben, ohne wichtige Punkte zu verschenken.
Beispiel: Die Abgrenzung zwischen dolus eventualis und Fahrlässigkeit
Im Sachverhalt steht, „der Täter vertraute (Signalwort!) darauf, dass alles gut geht“. In diesem Fall ist klar, es gibt das Problem der Abgrenzung zwischen dolus eventualis und Fahrlässigkeit, aber in einem solchen Fall darf hier kein ausführlicher Streitentscheid kommen. Inwieweit dieser Fall dann noch unter die 1. Stufe oder schon unter die 2. Stufe fällt, ist dann anhand der Frage zu klären, wie viel gibt der Sachverhalt hinsichtlich des Täterverhaltens an?
3. Stufe „!!!“ = Streitentscheid führen! Das heißt, mindestens ein Argument pro bzw. contra sowie mindestens zwei Argumente für eure vertretene Ansicht. Plus entsprechender Begründung, warum man sich für diese oder jene Ansicht entschieden hat, bzw. warum die eine Ansicht abzulehnen und der anderen zu folgen ist. Die juristische Arbeit liegt primär im Argumentieren, daher muss das sauber und leicht von der Hand gehen. Hier gilt, kein auswendig gelernter Streitentscheid, sondern ihr müsst die Argumente für pro und contra draufhaben und sie auf den Sachverhalt in dem euch vorgelegten konkreten Einzelfall anwenden.
Eine Argumentation ist erst gegeben, wenn ihr mindestens ein Argument der Gegenseite mit einem „besseren“ Argument eurer Ansicht anhand des Sachverhalts entkräftet.
Die Einordnung der Klausurprobleme bereitet vielen Schwierigkeiten und ist auch einfach eine Wissenschaft für sich, aber eben auch erlernbar. Es ist schlichte Übungsarbeit. Nehmt euch vor allem im Klausurenkurs die Zeit, den Sachverhalt „Wort für Wort“ zu lesen und wie einen Detektivfall zu entschlüsseln. Was hat sich der Klausurersteller hierbei gedacht? Wozu bringt der Sachverhalt viele Anhaltspunkte und was wird eher nur als Flinte am Rande noch „eingeworfen“? Das kann man lernen und üben. Erst wenn ihr das mehr und mehr verinnerlicht habt, werdet ihr im Laufe der Zeit und mit zunehmender Übung euch immer mehr an die fünf Stunden herantasten.
Jede hierzu geäußerte Zeitangabe oder zeitliche Einteilung für die Klausur ist Quatsch! Ihr müsst durch Üben euren Rhythmus finden und für euch herausfinden, wie kurz ihr eure Lösungsskizze aufbauen könnt. Wie muss die Lösungsskizze sein, damit ihr sie perfekt, ohne zu stocken, runterschreiben könnt. Wie lange braucht ihr zum Ausformulieren einer Seite eurer Lösungsskizze? Entscheidend ist dabei allein eure Arbeitsweise. Denn jeder noch so gute Ratschlag hilft euch nicht, wenn ihr die Lösungsskizze am Ende nicht flüssig runterschreiben könnt. Euch sollte bewusst sein, dass jede Unfertigkeit, jede noch so kleine Lücke, die iRd Vorarbeit Minimal erscheint, im Schreibmodus euch das Genick brechen kann. Das hat einfach den Grund, dass im Zeitpunkt des Ausschreibens euer Gehirn bereits unfassbar viel geleistet hat. Beim Ausschreiben und dem Finden von Formulierungen wird euch jede Lücke in eurer Lösungsskizze nun schwimmen lassen. Daher nehmt euch unbedingt die Zeit, die ihr braucht und fangt keinesfalls an zu schreiben, solange eure Lösungsskizze nicht fertig ist.
Bereits in der Vorbereitungszeit für das Examen, wie bei dem Herantasten an das Klausurenschreiben, aber eben auch für die Examensklausuren selbst gilt, schaut nicht auf andere, sondern arbeitet immer mit euch, nach eurem Rhythmus und niemals gegen euch.