1. Objektiver Tatbestand

Autorin: Yvonne Mannsfeld (Rechtsanwältin)

Der objektive Tatbestand des § 32 I StGB erfordert eine Notwehrhandlung innerhalb einer Notwehrlage.

a) Notwehrlage

Eine Notwehrlage ist gegeben, wenn ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorliegt. Bei einem Angriff handelt es sich um jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Rechtsgüter oder Interessen. Geschützte Individualrechtsgüter sind z.B. Leben, Gesundheit, Eigentum etc.

Beispiel:
Notwehrlage (-), bei einem Angriff durch einen Hund (d.h. kein menschliches Verhalten)
Notwehrlage (+), wenn der Besitzer seinen Hund auf einen anderen Menschen hetzt

Der Angriff ist gegenwärtig, wenn er gerade stattfindet, unmittelbar bevorsteht oder noch andauert. Rechtswidrig ist er, wenn das Verhalten des Angreifers nicht selbst von einem Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Es ist in manchen Fällen somit eine inzidente Prüfung erforderlich.

b) Notwehrhandlung

Die Notwehrhandlung des Täters muss sich gegen den Angreifer richten sowie erforderlich und geboten sein.

Erforderlich ist eine Notwehrhandlung, wenn die Handlung geeignet ist, den Angriff sofort, auf Dauer und mit Sicherheit abzuwenden. Bei mehreren gleich geeigneten Mitteln ist das relativ mildeste Mittel zu verwenden. Die Erforderlichkeit ist aus ex ante Sicht zu bestimmen. Bei einem Überschreiten wäre die Rechtswidrigkeit zu bejahen und es könnte allenfalls ein Notwehrexzess gem. § 33 StGB als Entschuldigungsgrund in Betracht kommen.

Geboten ist die Handlung, wenn sie iRe sozialethisch bedingten, einschränkenden Betrachtung im Verhältnis zum Angriff normativ angemessen ist. Bei der Gebotenheit handelt es sich um eine Überprüfung der Angemessenheit der Handlung, sodass krasse Missverhältnisse zwischen den geschützten Rechtsgütern und der Notwehrhandlung ausgeschlossen werden.

Beispiel:
Angriff von schuldlosen oder gemindert schuldfähigen Personen (z.B. Kinder),
  • geringfügiger Angriff (z.B. nur ein paar Früchte vom Baum pflücken iSe Eigentumsverletzung),
  • Angriff innerhalb von familiären Verhältnissen oder einer Garantenbeziehung, sodass eine Pflicht hinsichtlich gegenseitiger Rücksichtnahme besteht
  • Reaktion auf einen provozierten Angriff

Problem - Der provozierte Angriff (auch sog. „actio illicita in causa“)Text
Problematisch ist, ob ein Notwehrrecht möglicherweise ausgeschlossen ist, wenn der Angegriffene die Lage vorsätzlich selbst herbeigeführt hat, um den Angreifer unter dem Deckmantel der Notwehr verletzen zu können. Es handelt sich demnach um eine sog. Absichtsprovokation.

(1) Eine Ansicht nimmt daher den Ausschluss des § 32 StGB an. Er soll lediglich die Möglichkeit des Ausweichens haben, da er rechtsmissbräuchlich gehandelt und folglich seine Schutzwürdigkeit verwirkt habe. Gegen diese Ansicht spricht, dass sie den Angreifer vollkommen schutzlos stellt.

(2) Eine andere Ansicht bejaht das Notwehrrecht gem. § 32 StGB, da er andernfalls schutzlos wäre. Der Angriff bleibt folglich rechtswidrig, trotz Provokation.

Daraus resultieren jedoch erhebliche Missbrauchsmöglichkeiten des Notwehrrechts. Die Ansicht lässt zudem vollkommen unberücksichtigt, dass der Provokateur der eigentliche Angreifer ist sowie dessen mögliche Auswirkungen auf den Schutz durch die Rechtsordnung.

(3) Die vermittelnde Ansicht nimmt ebenfalls grundsätzlich ein Notwehrrecht gem. § 32 StGB an, um niemanden schutzlos zu stellen. Sie schränkt jedoch das Notwehrrecht ein. Dies begründet sie damit, dass sich zum einen niemand provozieren lassen muss und zum anderen die Rechtsordnung nicht zulassen könne, dass jemand einen rechtswidrigen Angriff dulden müsse. Es zeigt sich in dieser Problematik das Zwischenspiel vom Schutz- und Rechtsbewährungsprinzip. Zwischen diesen Prinzipien gilt es eine angemessene Balance herzustellen, sodass diese Ansicht eine Abstufung des Notwehrrechts im Verhältnis zur Provokation annimmt. Diese Abstufung wurde zunächst nur bei Fahrlässigkeitsprovokationen angewendet, soll nach dieser Ansicht aber auch auf die Absichtsprovokation entsprechende Anwendung finden.

Ebenso der BGH, der eine umso stärkere Beschränkung annimmt, je vorwerfbarer die Provokation erfolgte. Dabei lässt er jedes sozialethisch-missbilligende Vorverhalten genügen, ohne dass ein rechtswidriges oder strafbares Verhalten gegeben sein muss.

    1. Stufe: Grundsätzlich nur ausweichen, d.h. primär den Versuch einer Deeskalation vornehmen.
    2. Stufe: Ist die erste Stufe erfolglos, kann eine Schutzwehr erfolgen, z.B. Wegschieben.
    3. Stufe: Erst wenn auch die zweite Stufe nicht genügt, kann ultima ratio eine aktive Verteidigung iSe Trutzwehr vorgenommen werden. Aber auch hier gilt ein zurückhaltendes Verhalten und er hat kleinere Beeinträchtigungen notfalls hinzunehmen.

Problematisch könnte der Fall einer Überreaktion des Opfers auf die Provokation sein. Während der BGH nur auf das provozierende Verhalten des Angegriffenen abstellt, möchte eine andere Ansicht auch die Möglichkeit einer Überreaktion des eigentlich Angegriffenen bzw. Provozierten entsprechend berücksichtigen. Nach letztgenannter Ansicht müsse das Notwehrrecht bei einer Überreaktion des Opfers wieder vollständig aufleben, da dem Provozierten insoweit allenfalls ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden könne.
In der Regel lässt sich aber auch eine Überreaktion in jedem konkreten Einzelfall angemessen nach der Stufentheorie lösen. Die Stufen sind entsprechend anzuwenden und dem Provokateur eine im Verhältnis zur Überreaktion stehende mögliche Verteidigung zu zusprechen.