II. Der Schutzzweckzusammenhang

Eine Besonderheit bei der Bearbeitung von Fahrlässigkeitsdelikten ist der Schutzzweckzusammenhang, der die objektive Zurechnung entfallen lassen kann, sofern der Erfolgseintritt außerhalb der verletzten Schutznorm liegt. Durch Auslegung muss hierbei ermittelt werden, ob die verletzte Norm gerade den verwirklichten Erfolg vermeiden soll.1 Zur Verdeutlichung zwei Beispiele.

Beispielfall 12: Ein Kraftfahrer überfährt mit erhöhtem Tempo leichtsinnig eine rote Ampel an einer Kreuzung ohne dass etwas passiert. Einen Kilometer weiter verletzt er jedoch trotz inzwischen korrekter Fahrweise ein Kind, das plötzlich auf die Straße vor den Pkw läuft.

Bei der Bearbeitung dieses Falles kommt einem natürlich sofort in den Sinn, dass die Überschreitung der Geschwindigkeit und das Überfahren der roten Ampel kausal für den Erfolgseintritt (das Verletzen des Kindes) ist, da der Autofahrer, hätte er sein Tempo gedrosselt bzw. wäre er bei rot an der Ampel stehen geblieben, später am Unfallort angekommen wäre und das Kind mit Sicherheit nicht angefahren hätte. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Sorgfaltsnorm zur Einhaltung der Ampelphasen die Verkehrskreuzung schützt und nicht der Vermeidung von späteren Folgen dient. Im Erfolg, also der Verletzung des Kindes, haben sich also nicht die der Normverletzung anhaftenden Risiken verwirklicht. Der Fahrer unterliegt in diesem Fall nicht dem Schutzbereich der verletzten Norm. Außerdem hat die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht die Inhalt, die Ankunft des Pkws an einem anderen Ort zu verzögern.3

Beispielfall 24: Ein Pkw-Fahrer fährt mit 1,2 Promille Blutalkohol und ohne Führerschein mit erlaubten 100 km/h auf der Landstraße und überholt einen Mofa-Fahrer, der plötzlich und verkehrswidrig nach links abbiegen will. Der Mofa-Fahrer wird vom Pkw-Fahrer erfasst und verunglückt tödlich. Ein Sachverständigengutachten ergibt, dass der Unfall auch für einen nüchternen Fahrer mit Fahrerlaubnis unvermeidbar gewesen wäre. Jedoch wäre der Unfall vermeidbar gewesen, wenn der Pkw-Fahrer mit einer seiner Reaktionsfähigkeit angepassten Geschwindigkeit von 60 km/h gefahren wäre.

Im zweiten Beispiel werden vom Pkw-Fahrer zwei Normen verletzt: das Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit (§ 316 StGB) und das Fahren ohne Führerschein (§ 21 I Nr. 1 StVG). Hätte sich der Fahrer nicht rechtswidrig ins Auto gesetzt, um mit diesem zu fahren, hätte er den Unfall vermeiden können. Hier verhält es sich ähnlich wie im obigen Fall: Der Schutzzweck der Normen liegt darin, die Gefahren, die mit alkoholisiertem Fahren oder aufgrund mangelnden Fahrkönnens zusammenhängen, zu vermeiden. Der Schutzbereich gilt jedoch nicht für etwaige Unfälle, die durch ordnungsgemäßes Fahren entstehen.

Anders werden diese Fälle von der Rechtsprechung behandelt. Sie stellt darauf ab, wie schnell ein Fahrer mit herabgesetzter Reaktionsfähigkeit noch hätte fahren können, um bei auftretenden Gefahren noch ausreichend reagieren zu können. Sie bejaht eine Strafbarkeit daher in Fällen, bei denen bei reduzierter Geschwindigkeit der Unfall hätte vermieden werden können.5

Die Rechtsprechung des BGH wird von der überwiegenden Meinung in der Literatur abgelehnt, da sie dem betrunkenen Fahrer nicht mehr Pflichten auferlegen will als einem nüchternen Fahrer. Sie sieht das langsamere Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit auch als rechtswidriges Verhalten an und möchte es nicht als Ersatz für das Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit mit erlaubter Geschwindigkeit stellen. Denn Vergleichsmaßstab ist nach dieser Meinung nur ein nüchterner Fahrer in derselben Situation.6

  • 1. S/S/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 157; Kühl, § 17, Rn. 68ff.
  • 2. nach Küper, FS Lackner, 1987, 251.
  • 3. Küper, Fs. Lackner, 1987, 251; Kretschmer, Jura 2000, 267, 275
  • 4. nach Rengier § 52 vor Rn. 1.
  • 5. BGHSt 24, 31, 35 ff.
  • 6. Kühl, § 17, Rn. 63; Roxin AT II, § 11, Rn. 102; Eisele JA 2003, 47 f.; Rengier, § 52, Rn. 41.