I. Pflichtwidrigkeitszusammenhang

Gefragt werden muss bei den Fahrlässigkeitsdelikten nach dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang, der die objektive Sorgfaltspflichtverletzung und die Erfolgsverursachung in Beziehung stellt. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang fordert, dass sich im konkreten Erfolg gerade die rechtlich missbilligte Gefahr verwirklicht, die der Täter durch seine Sorgfaltspflichtverletzung geschaffen hat. Zurechenbar ist einem Täter der Erfolg also nur dann, wenn der Erfolgseintritt bei pflichtgemäßem Alternativverhalten vermeidbar gewesen wäre. Es versteht sich von selbst, dass dem Täter ein Fehlverhalten nicht vorgeworfen werden kann, wenn der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten und unvermeidbar gewesen wäre.1

Als Beispiel dient der bekannte „Lastwagen-Radfahrer-Fall“2:
Ein Lastwagenfahrer überholt einen Radfahrer und hält dabei nicht den nach StVO vorgegebenen Seitenabstand von 1-1,5 m ein. Während er überholt, gerät der stark angetrunkene Radfahrer infolge einer alkoholbedingten Kurzschlussreaktion unter die Räder des Lastwagens und verunglückt tödlich. Nach gutachterlichen Untersuchungen wurde festgestellt, dass der Unfall sich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen tödlichen Ausgang auch dann ereignet hätte, wenn vom Lastwagenfahrer ein genügender Seitenabstand eingehalten worden wäre.

Der BGH hatte den Lastwagenfahrer nicht nach § 222 StGB betraft, da die von ihm gesetzte Bedingung nach rechtlichen Maßstäben nicht bedeutsam war. Die Kausalität für den Erfolg war zwar zweifelsohne gegeben. Der BGH wandte jedoch ein zusätzliches, hypothetisches, Element an: Er stellte darauf ab, ob der Erfolg eingetreten wäre, wenn der Lastwagenfahrer ordnungsgemäß den Seitenabstand eingehalten hätte. Dieser Blickwinkel auf das rechtmäßige Alternativverhalten wird zur Ermittelung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zur Hilfe genommen. Im vorliegenden Fall wäre der Todeserfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann eingetreten, wenn der Fahrer sich rechtmäßig verhalten hätte.

Negativ ausgedrückt bedeutet das, dass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang dann verneint werden kann, wenn der Erfolg (hier der Tod) trotz Einhaltung der Sorgfalt (Überholen mit ausreichendem Seitenabstand) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre.3

Wichtig ist nach h.M. in diesem Zusammenhang, dass der Erfolg „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ trotz rechtmäßigen Alternativverhaltens eingetreten wäre. Besteht auch nur eine Möglichkeit, dass der Erfolg auch ohne die Pflichtverletzung hätte eintreten können, muss in dubio pro reo zugunsten des Täters entscheiden und der Pflichtwidrigkeitszusammenhang ausgeschlossen werden. Dem gegenüber steht eine Mindermeinung, die anhand der Risikoerhöhungstheorie den Pflichtwidrigkeitszusammenhang auch dann schon bejaht, wenn das pflichtwidrige Verhalten das Risiko, verglichen mit dem rechtmäßigen Alternativverhalten, deutlich erhöht hat. Diese Meinung stützt sich darauf, dass der Täter dennoch eine unerlaubte Gefahr gesetzt hat, die sich im Erfolgseintritt niedergeschlagen hätte. Vorzugswürdig ist die h.M., da sie den Täter nicht belastet, der womöglich auch mit rechtmäßigem Verhalten den Erfolg herbeigeführt hätte. Die Risikoerhöhungslehre verstößt demnach gegen den Grundsatz in dubio pro reo.4

  • 1. Wessels/Beulke Rn. 675 f.; Rengier § 52 Rn. 26 f.
  • 2. BGHSt 11, 1
  • 3. Kretschmer JURA 2000, 267, 274; Wessels/Beulke Rn. 676
  • 4. h.M.: BGHSt 11, 1 ff; 33, 61, 63 f.; Frisch, JuS 2011, 207 f.; S/S/Sternberg-Lieben § 15 Rn. 177 ff.; zur Risikoerhöhungslehere: Lackner/Kühl, § 15, Rn. 44; vgl. auch hier: „Die Risikoerhöhungslehre“