I. Der Maßstab der Sorgfaltspflicht

Um herauszufinden, ob eine Sorgfaltsplichtverletzung vorliegt, muss erst einmal geklärt werden, wie sich ein Mensch in der konkreten Situation hätte verhalten müssen. Gefragt wird also nach dem sorgfaltsgemäßen Verhalten – an diesem wird dann das Verhalten des Täters gemessen. Sofern das Täterverhalten negativ abweicht, liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung vor. Demnach muss bei der Prüfung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung betrachtet werden, inwieweit der Täter bei seiner Tat hat Sorgfalt walten lassen und ob er ein unerlaubtes Risiko geschaffen hat.

Der Sorgfaltsmaßstab richtet sich nach den Anforderungen, die an einen gewissenhaften und besonnenen Menschen, der sich in der konkreten Lage befindet und dem Verkehrskreis des Täters angehört, bei objektiver ex-ante Betrachtung der Gefahrenlage zu stellen sind. Man betrachtet einen „Normalbürger“, also einen umsichtig handelnden Menschen, der, zurückversetzt in die Situation des Täters, beurteilen soll, wie sich ein „normaler“ Mensch in dieser Situation aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung verhalten hätte.1

Die Sorgfaltsanforderungen richten sich sowohl nach geschriebenen wie auch nach ungeschriebenen Sorgfaltsregeln. Erstere sind die so genannten Sondernormen wie die StVO für den Straßenverkehr oder DIN-Vorschriften. Diese Sondernormen sollten als erstes bedacht werden, bevor man zu den ungeschriebenen Sorgfaltsregeln der Verkehrsgepflogenheiten gelangt. Beachtet werden müssen hierbei allgemeine Erfahrungssätze wie die anerkannten Regeln der Technik oder der ärztlichen Kunst, die Verkehrssitte, sowie Erfahrungen zur Gefahrenvermeidung im Haushalt, bei der Tierhaltung und bestimmten Hobbies wie Skifahren oder Bergsteigen.2

Weiterhin müssen dann normative Momente in Erwägung gezogen werden, wenn nach dem sorgfältigen Verhalten von Situationen gefragt wird, für die es keine Sondernormen und Regeln gibt. Dies löst man mit Hilfe der Frage nach dem so genannten „Sorgfaltstyp“: Als Sorgfaltstyp wird der gewissenhafte und besonnene Angehörige des betreffenden Verkehrskreises bezeichnet, in dem der Täter tätig ist, auch als „soziale Rolle des Handelnden“ benannt.3 Vorsicht ist jedoch geboten bei dieser Generalisierung von Menschen, da die Gefahr besteht, dass damit individuelle Fähigkeiten von Einzelnen außer Acht gelassen werden. Deshalb muss man sich eng an dem sozialen Bereich orientieren, in welchem der Täter tätig ist, also zum Beispiel an dem Verkehrskreis des sorgfältigen Chirurgen und nicht an dem eines sorgfältigen Arztes im Allgemeinen.

  • 1. BGHSt 7, 307; 37, 184; Kühl § 17 Rn. 22 f.; Wessels/Beulke Rn. 667a.
  • 2. BGH NStZ 2003, 658; OLG Frankfurt NStZ-RR 2011, 205; S/S/Sternberg/Lieben § 15 Rn. 184; Rengier § 52 Rn. 15 ff.
  • 3. BGH NStZ 2005, 446, 447.