Wirksamwerden von Willenserklärungen

Autorin: Kim Alexandra Reichenbach (Referendarin)

Für das Wirksamwerden der Willenserklärungen ist zwischen der empfangsbedürftigen und nichtempfangsbedürftigen Willenserklärung zu unterscheiden.

Die nicht empfangsbedürftige Willenserklärung wird schon mit Abgabe, d.h. Ausspruch der Willenserklärung wirksam, z. B. reicht die bloße formwirksame Formulierung des Testaments für dessen Gültigkeit aus, es muss den Erben nicht erst gezeigt werden.

Die nichtempfangsbedürftigen Willenserklärungen werden nicht schon mit ihrem Ausspruch wirksam, sie müssen zusätzlich beim Empfänger gem. § 130 Abs. 1 BGB zugehen.

Unter Abgabe ist das bewusste Entlassen der Willenserklärung in den Rechtsverkehr zu verstehen, sodass sie den Empfänger unter normalen Umständen erreicht, z. B. die Erklärung postalisch an den Erklärungsempfänger zu versenden. Dann liegt bereits in der Aufgabe zur Post (meist durch Einwurf in einen Post-Briefkasten) die Abgabe.

Beim Zugang i.S.v. § 130 Abs. 1 BGB wird weiter unterschieden zwischen Zugang unter Anwesenden und Zugang unter Abwesenden. Unter Anwesenden geht die Willenserklärung i.d.R. sofort zu, d.h. meist mit ihrem Ausspruch (entweder persönlich oder am Telefon). Nach der eingeschränkten Vernehmungstheorie (h.M.) gilt die Willenserklärung als zugegangen, wenn der Erklärende nach den Umständen des Einzelfalls damit rechnen konnte und durfte, dass der Empfänger sie richtig und vollständig erfasst hat. Nach der strengen Vernehmungstheorie (früher h.M.) soll die Willenserklärung so zugehen, wie sie vom Empfänger tatsächlich verstanden wurde. Hier obliegt das Risiko dem Erklärenden, anders als bei der heute h.M., wo das Risiko beim Empfänger liegt.

Unter Abwesenden geht eine Willenserklärung dann zu, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass unter normalen Umständen mit dessen Kenntnisnahme zu rechnen ist. Wird der zur Post gebrachte Brief vom Postboten am nächsten Morgen gegen 09:00 Uhr beim Erklärungsempfänger in den Briefkasten geworden, so ist die Willenserklärung zugegangen. Wirft der Erklärende den Brief aber selbst ein und das spätabends um 22:00 Uhr, so geht die Erklärung erst dann zu, wenn mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist, also frühestens am nächsten Morgen, denn erst dann ist mit der Kenntnisnahme des Empfängers zu rechnen. Diese Differenzierung ist entscheidend bei der Betrachtung der Widerrufsmöglichkeiten des § 130 Abs. 1 S. 2 BGB.

Nach § 130 Abs. 1 S. 2 BGB wird die Willenserklärung nicht wirksam, wenn vorher oder gleichzeitig mit ihrem Zugang ein Widerruf zugegangen ist.

Beispiel 1:
Der Brief ist um 09:00 Uhr beim Erklärungsempfänger in den Briefkasten geworfen worden. Dieser genießt in diesem Augenblick noch ein ausgiebiges Frühstück und macht sich erst einige Zeit nach dem Einwurf auf den Weg zum Briefkasten. Just in diesem Moment ruft der Erklärende beim Empfänger an und widerruft seine Willenserklärung. Dieser Widerruf ist allerdings nicht mehr wirksam erklärt, da der Brief bereits nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB wirksam durch den Einwurf des Postboten um 09:00 Uhr zugegangen ist, d.h. der Widerruf ist nicht vorher oder zeitgleich mit der Willenserklärung zugegangen. Entscheidend ist lediglich die Möglichkeit der Kenntnisnahme, nicht die tatsächliche Kenntnisnahme. Diese bestand für den Empfänger bereits seit 09:00 Uhr morgens.
Beispiel 2:
Der Erklärende, der den Brief am Abend zuvor nach Geschäftsschluss selbst eingeworfen hat, überlegt es sich doch noch mal anders und ruft beim Erklärungsempfänger am Morgen gegen 08:30 Uhr an, um sein Angebot zurückzunehmen. Der Erklärungsempfänger geht erst nach dem Telefonat gegen 09:00 Uhr zum Briefkasten und findet darin das Angebot des Erklärenden. Dieses ist nach § 130 Abs. 1 S. 2 BGB aber nicht mehr wirksam, da vor dem Zugang wirksam widerrufen wurde.

Die Möglichkeit der Kenntnisnahme ist insbesondere bei der geschäftlichen Brief-, Mail- und Telefax-Kommunikation genau zu differenzieren. Eine Willenserklärung geht hier regelmäßig nur während der Geschäftszeiten sofort zu.

Achtung: Wird ein Angebot außerhalb der Öffnungszeiten (z. B. per E-Mail) unterbreitet und liest der Erklärungsempfänger diese E-Mail, etwa weil er noch einmal in die Geschäftsräume zurückgekehrt ist, weil er dort seine Wohnungsschlüssel vergessen hat, so ist die Willenserklärung trotzdem zugegangen, auch wenn mit ihrer Kenntnisnahme andernfalls nicht vor Öffnung der Geschäftsräume am darauffolgenden Werktag zu rechnen ist. Die tatsächliche Kenntnisnahme geht der bloßen Möglichkeit bei der Frage des Zugangs vor. Ein Widerruf, der den Empfänger noch vor dem nächsten Arbeitstag erreicht, ist somit gleichfalls nicht mehr vorher oder gleichzeitig i.S.d. § 130 Abs. 1 S. 2 BGB erklärt.

Umstritten ist folgender Fall: C macht B per Brief ein Angebot über den Kauf von Frontschürzen. B ist im Kurzurlaub, also packt seine Sekretärin S alle Briefumschläge zunächst ungeöffnet auf dessen Schreibtisch, so auch das Angebot des C. Dieser überlegt es sich noch einmal und setzt ein neues Schreiben auf, in dem er B mitteilt, er nehme Abstand von seinem Kaufangebot. Dieses Schreiben wird ebenfalls auf den Schreibtisch des B gelegt, wo B es nach Rückkehr an seinen Arbeitsplatz liest, noch bevor er zum Schreiben des C gelangt, in welchem dieser das Angebot erklärt.

Hier soll nach teilweise vertretener Ansicht von dem Grundsatz der bloßen Möglichkeit der Kenntnisnahme abgewichen und auf die tatsächliche Kenntnisnahme abgestellt werden. Der Empfänger sei nicht schutzwürdig, wenn er den Widerruf noch vor dem Angebot des Erklärenden zur Kenntnis nimmt, denn dann dürfe er auf die Gültigkeit des Angebots auch nicht mehr vertrauen. Diese Ansicht argumentiert außerdem, dass sonst kaum Fälle verbleiben, in denen der Widerruf gleichzeitig i.S.d. § 130 Abs. 1 S. 2 BGB mit dem Angebot zugehen kann. Die h.M. hält den Widerruf aber auch in solchen Fällen für unwirksam (trotz überzeugender Argumente der Gegenansicht).

Nun gibt es Fälle, in denen der Erklärungsempfänger das Gelangen der Willenserklärung in seinen Machtbereich vorsätzlich verhindert (sog. Zugangsvereitelung), um das Wirksamwerden der Willenserklärung gem. § 130 Abs. 2 BGB zu vereiteln. Geschieht dies ohne beachtlichen Grund, nimmt die h.M. eine Zugangsfiktion an und beruft sich auf die Rechtsgedanken der §§ 162 Abs. 1, 815 Alt. 2 BGB, d.h. die Erklärung geht trotzdem wirksam zu. Die Gegenansicht nimmt zunächst keinen Zugang an. Vielmehr stellt sie es dem Erklärenden frei, ob er an seiner Erklärung festhalten will. Dann muss er sich um einen zeitnahen („unverzüglichen“) zweiten Zustellungsversuch bemühen. Hier darf sich der Empfänger dann nicht auf die Verspätung der Willenserklärung berufen (Gedanke des § 242 BGB), d.h. diese Ansicht arbeitet mit einer Rechtzeitigkeitsfiktion.

Davon unterscheiden sich die Fälle, in denen der Erklärungsempfänger gegen die Obliegenheit verstößt, geeignete Vorkehrungen für einen Zugang zu treffen. Diese besteht aber nur, wenn mit rechtserheblichen Erklärungen zu rechnen ist. Hier nimmt die h.M. eine Rechtzeitigkeitsfiktion an (s. o.), während die andere Ansicht den Verstoß gegen die Obliegenheit als Pflichtverletzung i.S.d. § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB sieht. Die Zugangsfiktion erfolgt dann aus § 249 Abs. 1 BGB, d.h. der Erklärende ist so zu stellen, als habe der Empfänger nicht gegen seine Obliegenheit verstoßen. Diese Ansicht räumt dem Erklärenden weiterhin ein Wahlrecht ein, ob die Willenserklärung noch gelten soll.

Sonstige objektive Zugangshindernisse in der Sphäre des Empfängers gehen zulasten des Erklärenden, dieser trägt das Risiko. Ein Zugang ist nicht anzunehmen, denn ein objektives Hindernis kann nicht über § 242 BGB zur Rechtzeitigkeitsfiktion führen. Der Empfänger kann sich also auf die Verspätung berufen. Dies gilt aber nicht, wenn er mit einer Erklärung rechnen musste (dann verstößt er gegen eine Obliegenheit).