Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch bzw. der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch gem. § 906 II 2 BGB
Überblick
Ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch bzw. der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch gem. § 906 II 2 BGB besteht, wenn eine vorherige Abwehr von Beeinträchtigungen an tatsächlichen Gründen scheitert. Dies kann in den Fällen angenommen werden, in denen der betroffene Nachbar von der Beeinträchtigung, ihrem Ausmaß oder der Person des Störers zu spät erfahren hat und die dadurch bewirkte Schädigung seines Grundstückes nicht verhindern konnte. Diese Ausdehnung des Anspruchs aus § 906 II 2 BGB ist jedoch umstritten.
1. Ansicht - Bejahende Meinung
Kommt es zu einer schädigenden Einwirkung auf ein Nachbargrundstück wegen Nutzungshandlungen des Eigentümers oder Benutzers eines privatwirtschaftlich genutzten Grundstücks oder wegen von selbst eintretender Schadensentwicklungen, ohne dass den Eigentümer oder Nutzer des Grundstücks ein Verschulden trifft, so kann dem Eigentümer oder Besitzer des betroffenen Nachbargrundstücks in Analogie zu § 906 II 2 BGB ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch wegen faktischen Duldungszwangs zustehen. Dessen Höhe bestimmt sich nach den Grundsätzen der Enteignungsentschädigung. Voraussetzung für diesen Anspruch ist, dass der betroffene Nachbar die schädigende Einwirkung auf sein Grundstück theoretisch mithilfe eines Abwehr-, Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruchs (§§ 862, 907 ff., 1004 BGB) hätte unterbinden können, daran aber aus tatsächlichen Gründen gehindert war. Weiterhin müssen die Nachteile, die dem betroffenen Nachbarn entstanden sind, über das Maß hinausgehen, welches ein Eigentümer bei Immissionen im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 906 BGB ohne Entschädigung hinnehmen müsste.1
Argumente für diese Ansicht
Gleichbehandlung von Aufopferungsanspruch und Abwehranspruch
Ebenso wie der Abwehranspruch aus § 1004 BGB ausgeschlossen sein kann, wenn die Unterbindung der Störung die Einstellung oder eine erhebliche funktionsmäßige Beeinträchtigung eines Betriebes zur Folge hat und der Nachbar sodann einen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch (aus § 242 BGB oder Duldungspflicht aus nachbarschaftlichem Gemeinschaftsverhältnis) hat, muss auch derjenige einen Anspruch haben, der aus faktischen Gründen den Abwehranspruch nicht durchsetzen kann.
Gerechtigkeit
Es ist ein unabweisbares Bedürfnis und ein evidentes Gebot der Gerechtigkeit, dass der Grundstückseigentümer, der aus tatsächlichen Gründen eine Beeinträchtigung hinnehmen muss, die über das zumutbare Maß hinausgeht, diese auch ersetzt haben kann.
Veranlassung, Gefahrenbeherrschung und Vorteilsziehung für den Störer
Der Störer, von dem die Immissionen ausgehen, hat die Gefahrenbeherrschung inne und zieht seine Vorteile. Er hat damit die Verantwortung für das schädigende Ereignis und ist somit auch - verschuldensunabhängig - zum Ausgleich verpflichtet.
2. Ansicht - Differenzierende Theorie
Ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch kommt nur dann in Betracht, wenn die schädigende Beeinträchtigung auf unzulässige Nutzungshandlungen zurückgeht. Diese müssen zudem mit einer spezifischen Gefahr für den Nachbarn verbunden sein. Handelt es sich um schädigende Beeinträchtigungen, die sich aus gefährlichen Zuständen auf einem Nachbargrundstück entwickeln, scheidet diese Anspruchsgrundlage aus.2
Argumente für diese Ansicht
Gefahr der generellen Gefährdungshaftung
Kommt die Beeinträchtigung aus einem mangelhaften Zustand des Nachbargrundstücks, hat der geschädigte Grundstückseigentümer theoretisch bereits vor Entstehung eines Schadens einen negatorischen Gefahrenabwehranspruch aus §§ 908, 1004 BGB. Nimmt man jedoch einen unerkennbar bedrohlichen Zustand des Nachbargrundstücks als Grundlage für einen nach Schadenseintritt eintretenden verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch, käme es zu einer generellen Gefährdungshaftung unter Nachbarn.
Keine Gefährdungshaftung ohne gesetzliche Verankerung
Die Gefährdungshaftung ist in ihrem Kern eine Zustandshaftung, daher ist der Anspruch von vornherein auf Beeinträchtigungen aufgrund von unzulässigen Handlungen zu beschränken. Schäden, die aus einem unerkennbar gefährlichen Zustand eines Grundstücks herrühren, können zu enormen Schadenssummen führen. Gerade wegen dieser enormen Kosten bedarf es einer Verankerung im Gesetz.
3. Ansicht - ablehnende Meinung
Es gibt weder einen bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch noch einen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch bei faktischem Duldungszwang.3
Argumente für diese Ansicht
Unterlaufen des Enumerationsprinzips
Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch aufgrund eines faktischen Duldungszwangs unterläuft das gefährdungsrechtliche Enumerationsprinzip.
Keine Rechtsähnlichkeit
Für die analoge Anwendung des § 906 II 2 BGB fehlt es an einer Rechtsähnlichkeit, denn ein rein tatsächliches Hindernis für die Geltendmachung eines an sich gegebenen Abwehranspruchs ist etwas gänzlich anderes als die gesetzliche Verankerung für eine Duldungspflicht bei gleichzeitiger Kompensation der versagten Abwehrmöglichkeit.
Deliktsrecht zweiten Grades
Durch den bürgerlich-rechtlichen Ausgleichsanspruch wird ein Deliktsrecht zweiten Grades geschaffen. Hierbei wird das Erfordernis des Verschuldens außer Acht gelassen. Dabei wird das deliktsrechtliche Verschuldenserfordernis unterlaufen. Dieser verschuldensunabhängige Ausgleichsanspruch ist nicht auf eine bestimmte Fallgruppe begrenzt, sondern umfasst im Prinzip jede Eigentumsverletzung.
- 1. Ständige Rechtsprechung des BGH: BGHZ 236, 369; BGHZ 155, 99; BGHZ 85, 375 (384 f); BGH NJW 1990, 3195 (3196).
- 2. Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrecht Bd. II/2, 13. Auflage, § 85 III 1b, S. 665 ff.;Roth, Jus 2001, 1161 (1163).
- 3. MüKoBGB/Brückner, 9. Auflage 2023, § 906 Rn. 198 mwN; Dötsch NZM 2004, 177 (180); Neuner Jus 2005, 487 (491).
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