Inwieweit macht sich der Täter in den Fällen des klassischen dolus generalis strafbar?
Überblick
Bei den Fällen des klassischen dolus generalis handelt es sich um Situationen, in denen der Täter bei einem mehraktigen Geschehen glaubt, sein Opfer bereits durch eine Ersthandlung getötet zu haben, wobei dies tatsächlich erst durch eine Zweithandlung geschieht (vgl. hierzu insbesondere den bekannten Jauchegruben-Fall, BGHSt 14, 193). Umstritten ist, inwieweit sich der Täter in einem solchen Fall strafbar macht.1 Weitgehende Einigkeit2
Die Ansichten und ihre Argumente
1.Ansicht - Versuchslösung
Nach dieser Auffassung werden die Teilakte (vorliegend Erst- und Zweithandlung) getrennt voneinander betrachtet, sodass sich der Täter hinsichtlich des ersten Aktes wegen versuchten Totschlags und in Bezug auf den zweiten Akt (in der Regel) wegen fahrlässiger Tötung strafbar macht.3
Argumente für diese Ansicht
Der zweite Kausalverlauf überholt den ersten.
Unter der Voraussetzung, dass sich das zweite Tatgeschehen nicht mehr im Rahmen des durch das erste Tatgeschehen gesetzten Risikos bewegt und der Täter unbewusst durch den zweiten Akt ein selbstständiges neues Risiko setzt, überholt der zweite Kausalverlauf den ersten. Das Erstrisiko realisiert sich dann nicht im Erfolg. Insoweit irrt sich der Täter (der annimmt bereits durch diese Handlung den Tod herbeigeführt zu haben) über den Kausalverlauf. Dann kann ihm die Tat nur noch als Versuch zugerechnet werden. Hinsichtlich der Realisierung des unbewusst gesetzten Zweitrisikos kommt dann nur noch eine Fahrlässigkeitstat in Betracht.4
Der Täter bleibt im Versuch stecken.
In der vorgenannten Fallkonstellation verwirklicht der Täter durch die erste Handlung seinen Tötungsvorsatz gerade nicht. Das bedeutet, dass er insoweit im Versuch stecken geblieben ist, weil sich im Tod nicht die vom Täter geschaffene Gefahr verwirklicht hat, sodass die objektive Zurechnung entfällt. Hinsichtlich der zweiten Handlung befindet sich der Täter in einem Tatbestandsirrtum, weil er meint, eine Leiche vor sich zu haben, sodass ihm der durch die Zweithandlung bewirkte Tod allenfalls als fahrlässige Tötung angelastet werden kann.5
2. Ansicht - Vollendungslösung
Nach dieser Auffassung wird der Täter trotz des mehraktigen Geschehensablaufs aus dem vollendeten Delikt bestraft.6 Voraussetzung ist jedoch zwingend, dass sich der tatsächliche Kausalverlauf nach allgemeiner Lebenserfahrung noch im Bereich des Vorhersehbaren bewegt.
Argumente für diese Ansicht
Unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf
Der Täter ist grundsätzlich wegen der Ersthandlung zu bestrafen, bei welcher eine unwesentliche Abweichung des tatsächlichen Kausalverlaufs vom Vorstellungsbild des Täters vorliegt. Zwingende Voraussetzung – die in der Regel allerdings gegeben sein wird – ist, dass der tatsächliche Kausalverlauf noch im Rahmen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Vorhersehbaren liegt.
Dann ist der Täter wegen vollendeter vorsätzlicher Tötung zu bestrafen, da er bereits mit der ersten, vom Tötungsvorsatz beherrschten Handlung eine Ursache für den späteren, zurechenbaren Todeseintritt geschaffen hat.7
Der Tötungsvorsatz muss nicht bis zum Ende durchgehalten werden.
Der bei Begehung der Tat vorhandene Vorsatz muss gerade nicht bis zur Vollendung durchgehalten werden.8
Es liegt im Bereich allgemeiner Lebenserfahrung, dass medizinische Laien bewusstlose Opfer für tot halten und Täter nach einem Tötungsdelikt durch eine Anschlusshandlung die Tatspuren verwischen wollen.9
3. Ansicht - Tatplan-Theorie
Diese Auffassung bestraft den Täter ebenfalls aus vollendetem Delikt, soweit es sich bei dem tatsächlichen Geschehensablauf noch um eine unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf handelt. Allerdings sind die Voraussetzungen diesbezüglich strenger. Eine unwesentliche Abweichung liegt demnach nur vor, wenn sich die Zweithandlung als Verwirklichung des Tatplans darstellt. Dies ist nur der Fall, wenn der Täter mit Tötungsabsicht und nicht nur mit Eventualvorsatz handelt.10
Argumente für diese Ansicht
Nur wenn der Täter hinsichtlich der Tötung des Opfers absichtlich handelt, realisiert sich der Täterplan.
Wenn der Täter den Tod seines Opfers beabsichtigt und den für Tod gehaltenen Bewusstlosen vergräbt und dieser erst dadurch stirbt, wird man das Geschehen bei objektiver Betrachtung trotz der Kausalabweichung als Verwirklichung des Tatplans ansehen müssen. Der Täter wollte sein Opfer töten, was ihm auch gelungen ist. Zwar ist die Tötung anders abgelaufen, aber das ist für die Realisierung des Tötungsplans unerheblich.
Diese Beurteilung ändert sich erst dann, wenn der Täter den Tod des Opfers als Nebenfolge „nur“ billigend in Kauf nimmt (vor allem, wenn dies notwendig ist, um seine eigentlich beabsichtigte Tat zu verwirklichen), das Opfer aber tatsächlich erst beim Verscharren stirbt. Sowohl vom Standpunkt des Täters aus als auch nach normativen Maßstäben, stellt sich diese Situation nicht mehr als Verwirklichung des Tatplans dar, sondern als bedauerliches Missgeschick.11
- 1. Zum Ganzen ua Hilgendorf/Kudlich/Valerius/Walter, Handbuch des Strafrechts, Bd. II, C. V: 3.
- 2. Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 16 Rn. 9./fn> besteht heute zumindest dahingehend, dass die frühere Beurteilung der Fälle nach dem dolus generalis nicht mehr in Betracht kommt. Demnach wurde eine Art „allgemeiner Vorsatz“ konstruiert, der die Strafbarkeit aus einem vollendeten Delikt begründen sollte. Insoweit würde ein einheitliches Handlungsgeschehen vorliegen, wobei auch der zweite Teil vom Vorsatz umfasst ist.
Welzel, StrafR, 1974, 1969. - 3. Hettinger, GA 2006, 289; AK/Schaefer, StGB, 3. Auflage 2020, § 15 Rn. 4.
- 4. Lichtenthäler, JuS 2020, 211 (213).
- 5. Lichtenthäler, JuS 2020, 211 (212).
- 6. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 15 Rn. 58 mwN; Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 16 Rn. 9; BGHSt 14, 193.
- 7. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 15 Rn. 58 mwN.
- 8. Lichtenthäler, JuS 2020, 211 (212).
- 9. Bechtel, JA 2016, 906 (907).
- 10. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 15 Rn. 58 mwN.
- 11. BGHSt 14, 193; Roxin, AT I, 4. Auflage, § 12 Rn. 177.
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