Erfordert das subjektive Rechtfertigungselement über die Kenntnis der Rechtfertigungssituation hinaus einen zielgerichteten Rechtfertigungswillen?

Überblick

Mittlerweile anerkannt ist, dass bei den Rechtfertigungsgründen neben den objektiven Elementen – dem Tatbestand entsprechend – ebenso ein subjektives Element hinzutreten muss.1 Fraglich ist jedoch, welche Anforderungen an dieses Element zu stellen sind. Im Kern geht es darum, ob ein Handeln in Kenntnis der Rechtfertigungssituation ausreicht, oder der Täter darüber hinaus mit gezielten Verteidigungswillen agieren muss. Grundsätzlich betrifft dieser Meinungsstreit alle Rechtfertigungsgründe, wohingegen er vorwiegend auf der Ebene der Notwehr nach § 32 oder des Notstandes nach § 34 StGB geführt wird, sodass sich einige Argumente an den Wortlaut dieser Norm anlehnen. Allerdings kann der Meinungsstreit auf die anderen Rechtfertigungsgründe übertragen werden.2

Die Ansichten und ihre Argumente

1. Ansicht - Kenntnistheorie

Nach dieser Auffassung reicht es aus, dass der Täter in Kenntnis der rechtfertigenden Situation und somit im Bewusstsein, einen Angriff abzuwehren handelt.3 Dabei kann der Betreffende entweder in dem sicheren Wissen oder im berechtigten Vertrauen darauf handeln.4Darüber hinausgehend ist nicht erforderlich, dass der Täter gerade aus der Motivation heraus handelt, das bedrohte Rechtsgut zu verteidigen.

Argumente für diese Ansicht

Die Bewertung eines Verhaltens als rechtswidrig kann nicht allein auf Motive gestützt werden.

Motive allein können niemals über die Frage der Rechtmäßigkeit entscheiden. Ihre Berücksichtigung würde vielmehr die Grenze zur sittlichen Beurteilung überschreiten.5

Unzulässige Bestrafung des Gesinnungsunwertes

Würde über die Kenntnis hinaus auch ein Rechtfertigungswille verlangt werden, würde man in der Sache behaupten, dass das Handlungsunrecht auch dann vorliegt, wenn die rein innerlich gebliebene Gesinnung des Täters eine rechtsfeindliche ist.6Es ist schwer anzunehmen, dass jemand rechtsfeindliche Einstellung hat, wenn er in Kenntnis der rechtfertigenden Umstände handelt.

2. Ansicht

Der Täter muss über die Kenntnis hinaus mit entsprechendem Rechtfertigungswillen handeln, im Falle der Notwehr also mit Verteidigungsabsicht.7 Die Verteidigung des Rechtsguts muss das – wenn auch nicht alleinige – Motiv des Täters sein.

Argumente für diese Ansicht

Wortlaut

Vor allem aus dem Wortlaut der §§ 32, 34 StGB (um...zu), ergibt sich, dass die subjektive Seite der Erlaubnistatbestände ebenso wie der subjektive Tatbestand der Verbotstatbestände nicht nur ein kognitives, sondern auch ein voluntatives Element enthalten müssen.8

Kompensationsgedanke

Bei einem Handeln ohne Verteidigungsabsicht in bloßer Kenntnis des Rechtfertigungselements steht dem Handlungsunwert auf der Tatbestandsebene (sprich: der aggressiven Verletzungsabsicht) auf der Ebene der Rechtfertigung keine ausreichende Kompensation gegenüber.9


Argumente gegen diese Ansicht

Dass die Abwehr der Zweck oder der Angriff ein Motiv der Handlung sein muss, ein Rechtfertigungsgrund also entfällt, wenn der Täter ausschließlich oder überwiegend aus anderen Gründen handelt, ergibt sich nicht aus dem Begriff der „Verteidigung“. Ebenso enthält auch das Merkmal „Angriff“ kein finales Element.10

Es spricht auch einiges dafür eine Versagung des Notwehrrechts anzunehmen und einen Verteidigungswillen für erforderlich zu halten, wenn ausschließlich auf die böse innere Einstellung des Täters abgestellt wird und vermutet wird, dieser hätte auch gehandelt, wenn eine rechtfertigende Situation nicht vorgelegen hätte.

Beide Umstände genügen jedoch nicht, um strafwürdiges Unrecht zu begründen. 11

  • 1. BGHSt 2, 111; Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 32 Rn. 23 ff.
  • 2. Rönnau, JuS 2009, 594.
  • 3. AK-StGB/Hauck, 3. Auflage 2020, § 32 Rn. 30; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, 30. Auflage 2019, § 32 Rn. 63.
  • 4. Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, 30. Auflage 2019, § 32 Rn. 63.
  • 5. Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, 30. Auflage 2019, § 32 Rn. 63.
  • 6. LK/Rönnau/Hohn, StGB, 13. Auflage 2019, § 32, S. 643.
  • 7. BGHSt 2, 111 (114).; 5, 245 (247).
  • 8. Rönnau, JuS 2009, 594.
  • 9. LK/Rönnau/Hohn, StGB, 13. Auflage 2019, § 32, S. 639.
  • 10. Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, 30. Auflage 2019, § 32 Rn. 63.
  • 11. LK/Rönnau/Hohn, StGB, 13. Auflage 2019, § 32 Rn. 266.

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