Glykol-Fall - BVerwG 26.06.2002 - 1 BvR 558/91, 1 BvR 1428/91 - BVerfGE 105,252 ff.
Sachverhalt
1985 stellten die Lebensmittelüberwachungsbehörden fest, dass zahlreiche in Deutschland verkaufte Weine mit einem Frostschutzmittel und chemischen Lösungsmittel - DEG - versetzt waren. Basierend auf dieser Feststellung gab der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG) eine Warnung in Form einer Liste heraus. Auf dieser Liste fanden sich alle DEG-haltigen Weine wieder mit dem Vermerk, dass die dargestellten Untersuchungsergebnisse sich lediglich auf den jeweils untersuchten Wein beziehen und es durchaus möglich sein könne, dass es Wein mit gleicher Bezeichnung und vom gleichen Abfüllen gäbe, der nicht mit DEG versetzt sei. Nur bei Weinen mit der Aufschrift der in dieser Liste angegebenen Abfüller, amtlicher Prüfungsnummer und der Lagebezeichnung sei DEG festgestellt worden.
Abfüller A ist in diese Liste aufgenommen worden, er befürchtet nun durch die Nennung seines Namens auf dieser Liste einen Rückgang der verkauften Weine die kein DEG enthalten. Er ist der Ansicht der Verbraucher könne hinsichtlich der Unterscheidung zwischen dem in der Liste aufgeführten Wein und dem DEG-freien Wein nicht differenzieren.
Deshalb erhebt er im November 1985 Klage mit dem Ziel ein, dem BMJFG die Aufnahme des genannten Weines in die Liste zu untersagen. Er bringt vor, es liege ein Eingriff in seine berufliche Tätigkeit durch Aufnahme in die Liste vor. Auch seine Eigentumsfreiheit sieht er als verletzt an.
Ist A in seinen Grundrechten verletzt?
Die Fallhistorie
Das BVerwG entschied im Jahre 2002 einen seit 1985 schwelenden Streit über Staatliche Warnungen.
Der Problemkreis
Die Problematik von staatlichen Warnungen als Eingriff in Art. 12 GG und Art. 14 GG.
Lösungsskizze
A. Art. 12 Abs. 1 GG
I. Schutzbereich
1. Persönlicher Schutzbereich
2. Sachlicher Schutzbereich
II. Eingriff
1. Klassischer Eingriffsbegriff
2. Erweiterter Eingriffsbegriff
a) Intensität
b) objektiv berufsregelnde Tendenz
III. Rechtfertigung
1. Schranken
2. Schranken-Schranken
a) Verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage
b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
(1) Legitimer Zweck
(2) Geeignetheit
(3) Erforderlichkeit
(4) Angemessenheit
B. Art. 14 Abs. 1 GG
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Gutachten
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch die Aufnahme in die Liste des BMJFG unter Nennung seines Namens in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.
A. Art. 12 Abs. 1 GG
A könnte in seinem Grundrecht aus Art.12 Abs. 1 GG verletzt sein.
I. Schutzbereich
Dafür müsste zunächst der Schutzbereich eröffnet sein.
1. Persönlicher Schutzbereich
A ist Deutscher nach Art. 116 I GG und damit Träger des Art. 12 Abs. 1 GG („Deutschen-Grundrecht“).Damit ist der persönliche Schutzbereich eröffnet.
2. Sachlicher Schutzbereich
Es müsste auch der sachliche Schutzbereich eröffnet sein.
Art. 12 Abs. 1 GG enthält einen einheitlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit. Beruf ist jede auf Dauer angelegte, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit, welche nicht generell verboten ist. Durch das Abfüllen und den Verkauf der Weine handelt A mit Gewinnerzielungsabsicht, diese Tätigkeit ist auch dauerhaft angelegt. Somit dient die Tätigkeit der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage und ist damit ein Beruf. Die Warnung der Bundesregierung betrifft die Verkaufsmöglichkeiten des A und damit seine Positionierung am Markt. Da eine ständige Wechselwirkung zwischen der konkreten Ausübung des Berufs und dem Wettbewerb besteht, erstreckt sich der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG auch auf die Wettbewerbsfreiheit.
Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet.
II. Eingriff
Fraglich ist, ob auch ein Eingriff vorliegt.
Durch die Nennung des Namens des A in der Liste des BMJFG ist zu befürchten, dass die Verbraucher sämtliche Weine des A nicht kaufen. Es könnte sich insoweit durch diese staatliche Einflussnahme auf den Wettbewerb um einen Eingriff in die von Art. 12 Abs. 1 GG mitgeschützte Wettbewerbsfreiheit handeln. Durch diese Einflussnahme könnte eine Wettbewerbsverzerrung eintreten. Fraglich ist, ob hierin ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG zu sehen ist.
1. Klassischer Eingriffsbegriff
Nach dem klassischen Eingriffsbegriff muss es sich bei dem staatliche Verhalten um einen Rechtsakt handeln. Dieses Verhalten muss zudem noch final, unmittelbar, sowie imperativ sein. Die Veröffentlichung der Liste an sich stellt keinen Rechtsakt, sondern einen Realakt dar. Durch die Listenveröffentlichung wird die Aufklärung der Verbraucher bezweckt. Durch deren Verhalten könnten die Umsatzeinbußen des A eintreten, indem die Verbraucher Zurückhaltung beim Kauf der Weine üben. Die reine Veröffentlichung der Liste hat noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Berufstätigkeit des A. Es fehlt daher an der Finalität und an der Unmittelbarkeit.
Die Liste dient der Information der Verbraucher, eine Durchsetzung mit Befehl und Zwang, demnach eine Vollstreckung, ist nicht möglich. Daher mangelt es auch an der Imperativität. Die Veröffentlichung der Liste stellt somit keinen klassischen Eingriff dar.
2. Erweiterter Eingriffsbegriff
Es könnte jedoch ein Eingriff nach dem erweiterten Eingriffsbegriff vorliegen.
Der erweiterte Eingriffsbegriff umfasst auch Realakte. Darunter fällt die Veröffentlichung der Liste des BMJFG.
Das Merkmal der Finialität ist hierbei nicht erforderlich, denn es genügt die Vorhersehbarkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung. Dass die Verbraucher als Folge der Veröffentlichung der Liste die Weine der genannten Abfüllen boykottieren würden, war auch durchaus erkennbar.
Das Merkmal der Unmittelbarkeit ist ebenfalls nicht erforderlich. Es genügt hierbei die Zurechenbarkeit. Die Zurückhaltung der Bürger, durch die erst Umsatzeinbußen bei A eintreten, stellt zwar nur eine Zwischenursache dar, jedoch unterbricht diese den Zurechnungszusammenhang nicht, denn sie folgt unmittelbar auf die Veröffentlichung der Liste. Statt des Merkmals der Imperativität tritt die Intensität. Erreicht diese Beeinträchtigung eine gewisse Intensität, steht das einer Vollstreckung, also einer Durchsetzbarkeit mit Befehl und Zwang, gleich.
Es müsste weiterhin eine objektiv berufsregelnde Tendenz vorliegen. Hierfür ist erforderlich, dass durch das staatliche Handeln solche Tätigkeiten betroffen sind, die typischerweise beruflich ausgeübt werden. Angeknüpft an die Warnung an Herstellung und Vertrieb von Weinen, ist eine Berufsnähe der Maßnahmen der Bundesregierung gegeben. Somit ist eine objektiv berufsregelnde Tendenz gegeben.
Es liegt somit ein Eingriff vor.
III. Rechtfertigung
Der Eingriff könnte jedoch gerechtfertig sein.
1. Schranken
Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG enthält einen Regelungsvorbehalt für die Berufsausübung; dieser wirkt wie ein einfacher Gesetzesvorbehalt und gilt für das gesamte Grundrecht der Berufsfreiheit.
2. Schranken-Schranken
a) Verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage
Aufgrund des Vorbehalt des Gesetzes müsste der Eingriff auf ein Gesetz zurückzuführen sein, dies gilt auch bei Eingriffen nach dem erweiterten Eingriffsbegriff. Begründen lässt sich dies mit dem Sinn und Zweck des Gesetzesvorbehalts. Er soll staatliches Handeln vorherseh- und berechenbarer machen.
1985, zum Zeitpunkt der Warnung, fehlte es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung für Produktwarnungen. Daher könnte Art. 65 GG als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden. Streitig ist, ob für Produktwarnungen Art. 65 GG als ermächtigende Norm ausreicht. Wenn der Staat Schutzpflichten zu erfüllen hat, so wie hier die Pflicht zum Schutz der Gesundheit der Bürger gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, ist in jedem Fall eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich. Vorliegend ist dies zwar nicht der Fall, jedoch kann nach Ansicht des BVerfG eine Kompetenznorm ausreichen. Vorliegend sind wegen der unbestimmten Weite des erweiterten Eingriffsbegriffs geringere Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt zu stellen.
Es kommt Art. 65 GG (die Befugnis zur Staatsleitung für die Bundesregierung) in Betracht. Denn diese lässt sich nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn eine effektive Öffentlichkeitsarbeit möglich ist. Erst durch die Befugnis zur Informationstätigkeit, kann dem Staat eine durchschlagende Problembewältigung ermöglicht werden. Vorliegend ist dies die Gesundheit der Bürger. Daher genügt Art. 65 GG als Ermächtigungsgrundlage dem Vorbehalt des Gesetzes aus Art. 20 III GG. Damit liegt eine verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage vor.
b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes
Weiterhin müsste auch der Einzelakt verfassungsgemäß sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Der Einzelakt müsste formell verfassungsgemäß sein. Dafür müsste die Gesetzgebungskompetenz gegeben und ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren durchgeführt worden sein.
Die Kompetenz zur Information liegt nach Art. 30 GG bei den Ländern, wenn nicht das GG eine andere Regelung trifft. Eine solche andere Regelung könnte in Art. 65 GG gesehen werden. Die Bundesregierung ist überall dort zur Informationsarbeit berechtigt, wo ihr eine gesamtstaatliche Verantwortung der Staatsleitung zukommt, die mit Hilfe von Informationen bundesweit erfüllt werden kann. Darauf basierend hat der Bund im vorliegenden Fall die Verbandskompetenz, da der Verkauf der mit DEG belasteten Flaschen im gesamten Bundesgebiet stattgefunden hat, die Gefahren für die Bevölkerung demnach bundesländerübergreifend sind. Nach Art. 65 GG kommt der Bundesregierung die Organkompetenz zu, die vom BMJFG nach S. 2 wahrgenommen wurde. Damit liegt die Gesetzgebungskompetenz vor. Auch von einem ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren ist, mangels anderweitiger Sachverhaltsangaben, auszugehen.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Die Nennung der Namen der Abfüller in der Warnliste müsste verhältnismäßig sein. Dafür müsste ein legitimer Zweck, die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Angemessenheit vorliegen.
(1) Legitimer Zweck
Zunächst müsste ein legitimer Zweck vorliegen.
Art. 12 Abs. 1 GG erlaubt seinem Wortlaut nach nur Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit. Eingriffe in das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit sind an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft. Nach der sog. Drei-Stufen-Theorie richtet sich der legitime Zweck danach, ob es sich um eine Berufsausübungsregelung (1. Stufe) oder um eine Regelung der Berufswahl (2. + 3. Stufe) handelt. Durch die Nennung des Namens des A in der Liste könnte es zu Umsatzeinbußen bei A kommen. Der Beruf des Abfüllers kann aber weiterhin ausgeübt werden. Auch dürften die wirtschaftlichen Einbußen nicht so schwerwiegend sein, dass der Eingriff einer objektiven Zulassungsvoraussetzung vergleichbar ist. Daher liegt ein Eingriff in die Berufsausübung vor, die bereits nach dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG geregelt werden kann.Im Gegensatz zu den Berufswahlregelungen sind deshalb keine besonderen Anforderungen an den legitimen Zweck zu stellen. Es genügt der Schutz eines Gemeinschaftsgutes. Die Veröffentlichung der Liste dient der Wahrung der Volksgesundheit und mithin einem legitimen Zweck.
[Anmerkung: Es ist Geschmackssache, ob ihr die Drei-Stufen-Theorie schon beim Eingriff oder erst bei der Verhältnismäßigkeit bringt. Beides ist vertretbar. Bringt dabei ruhig zum Ausdruck, dass die 3-Stufen-Theorie nichts weiter als eine modifizierte Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellt.]
(2) Geeignetheit
Die Veröffentlichung der Liste war auch geeignet um die Verbraucher zu warnen und den Zweck damit zumindest zu fördern.
(3) Erforderlichkeit
Der Einzelakt müsste auch erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn kein milderes und gleich effektives Mittel vorliegt.
Ein Verzicht auf die Nennung des Abfüllers wäre kein milderes, aber gleich effektives Mittel. Nur durch die Namensnennung wird dem Verbraucher überhaupt eine schnelle Identifizierung glykolhaltiger Weine ermöglicht.
(4) Angemessenheit
Nachteile für A stehen nicht außer Verhältnis zu den Vorteilen für die Volksgesundheit. Es ist zu berücksichtigen, dass der A durch das Abfüllen von Weinen mit DEG eine Gefahr für die Verbraucher gesetzt hat. Damit ist auch die Angemessenheit zu bejahen
[Exkurs: Achtet hier auf die genauen Sachverhaltsangaben. In der Regel werden im SV viele Argumente abgedruckt, die es in gleichem Umfang in der Angemessenheit zu erörtern gilt.]
Die Warnung des BMJFG vor DEG-haltigem Wein ist somit verhältnismäßig.
IV. Ergebnis
Die Veröffentlichung des Namens auf der Liste des BMJFG verletzt den A nicht in seinem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.
B. Art. 14 I GG: Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
Es fehlt bereits an der Eröffnung des Schutzbereiches, da bloße Chancen und Hoffnungen auf Gewinne u.ä. von Art. 14 I GG nicht umfasst werden. Durch die Warnung der Bundesregierung werden aber nur die Umsatz- und Gewinnchancen des A beeinträchtigt, sein Eigentum dagegen wird nicht beeinträchtigt. Es liegt daher keine Verletzung des Art. 14 I GG vor.
[Exkurs: Es gilt die Faustformel : Art. 12 I GG schützt den Erwerb, Art. 14 I GG schützt das Erworbene.]
Ergebnis: Die Veröffentlichung des Namens verletzt den A nicht in seinen Grundrechten aus Art. 12 I GG und Art. 14 I GG.
Du hast noch Fragen zu diesem Fall? Dann lass Dir das Thema vom ersten Semester bis zum zweiten Examen vom Profi erklären - und das kostenlos für drei Tage auf Jura Online
Vielen Dank für die Zusendung dieses Falls an Dipl.iur. Jessica Große-Wortmann!
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