Der Hochsitz-Fall ( BGHST 31, 96; NJW 1982, 2831 )

Der Hochsitz-Fall ( BGHST 31, 96; NJW 1982, 2831 )

Sachverhalt
Der A warf einen Hochsitz um, auf dem sich zu dieser Zeit sein Onkel (O) befand. Dieser zog sich nach dem Sturz aus einer Höhe von ca. 3,50m „nur“ eine Knöchelverletzung zu. Diese wurde im Krankenhaus nach den Regeln der Kunst behandelt. Allerdings vergaß man dort, den O bei und nach der Entlassung mit blutverflüssigenden Mitteln zu versorgen und bzgl. der Nachsorge zu Hause, aufzuklären. Kurze Zeit später wurde O wiederum, allerdings diesmal auf Grund erheblicher Herz-Kreislaufbeschwerden, ins Krankenhaus eingeliefert, wo er noch am gleichen Tag verstarb. Die gerichtsmedizinische Untersuchung des O ergab als Todesursache eine Lungenembolie, sowie eine Lungenentzündung, deren beider Ursprung in der langen Bettlägerigkeit des Opfers zu sehen war. Darüber hinaus wurden altersbedingte Schwächen am Herz-Kreislaufsystem des O diagnostiziert.
Strafbarkeit des A?
 

Die Fallhistorie

Der Hochsitz-Fall gehört zu den Klassikern des Strafrechts. Das BGH-Urteil vom 30.06.1982 ist insbesondere deshalb heftig umstritten, weil der BGH den geforderten „Unmittelbarkeitszusammenhang“ sehr weit gefasst hat.
 

Der Problemkreis

Der vorliegende Fall beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Frage, welche Anforderungen man an einen Unmittelbarkeitszusammenhang im Rahmen des § 227 StGB stellen muss. Der Streit ist auch noch in vielen anderen Konstellationen denkbar, sodass noch immer eine hohe Examensrelevanz besteht.
 

Lösungsskizze

Strafbarkeit des A
A. Strafbarkeit gem. §§ 227 I, 18 StGB
I. Tatbestand
1. Tatbestand des § 223 I
a) objektiver Tatbestand
- körperliche Misshandlung (+)
- Gesundheitsschädigung (+)
b) Subjektiver Tatbestand (+)
2. Erfolgsqualifikation des § 227 I
a) Tod (+)
b) Kausalität zwischen KV und Folge (+)
c) Unmittelbarkeitszusammenhang  (+) ( a.A. vertretbar)
(P) „durch“ die KV
e.A. : Letalitätstheorie ( Erfolg muss sich gerade in der Folge realisieren)
BGH: Erfolg muss an Handlung anknüpfen
d) objektiver Fahrlässigkeitsvorwurf gem. § 18 StGB
II. Rechtswidrigkeit (+)
III. Schuld (+)
IV. Ergebnis (+)
B. Subsidiärer § 222 StGB (+)

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Gutachten

Strafbarkeit des A

A. Strafbarkeit gem. §§ 227 I, 18 StGB

A könnte sich durch das Umwerfen des Hochsitzes gem. §§ 227 I, 18 StGB strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand
Dafür müsste der Tatbestand erfüllt sein.

1. Tatbestand des § 223 I StGB
Zunächst müsste der Tatbestand des § 223 I StGB vorliegen.
 
a) Objektiver Tatbestand des § 223 I
Der objektive Tatbestand des § 223 I müsste erfüllt sein.
Es müsste eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung vorliegen. Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und angemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtig. Hier ist O schwer gestürzt und hat sich den Knöchel verletzt. Damit liegt eine körperliche Misshandlung vor. Es liegt auch eine Gesundheitsschädigung vor, da die Knöchelverletzung einen pathologischen Zustand darstellt.
 
b) Subjektiver Tatbestand
A müsste auch vorsätzlich, mithin mit dolus eventualis bzgl. des § 223 I gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestands in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände. Hier wusste A, dass der O sich verletzen kann und nahm dies auch billigend in Kauf. Somit liegt Vorsatz vor.
 
2. Erfolgsqualifikation der §§ 227 I, 18 StGB
Weiterhin müssten die Vorraussetzungen der Erfolgsqualifikation der §§ 227 I, 18 StGB vorliegen.
 
a) Ausweislich des Sachverhalts ist der O verstorben. Damit liegt der Tod vor.
 
b) Es müsste auch Kausalität zwischen der Körperverletzung und der schweren Folge (Tod) vorliegen. Nach der conditio- sine-qua-non- Formel ist jede Handlung kausal, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Hätte der A den Hochsitz nicht umgeworfen und wäre dadurch nicht der Knöchel des O verletzt worden, wäre er nicht ins Krankenhaus geliefert worden und wäre nicht tot. Damit ist die Kausalität zu bejahen.
 
c) Fraglich ist allerdings, ob auch ein Unmittelbarkeitszusammenhang vorliegt. Diese Vorraussetzung wird aus dem Wort „ durch“ in § 227 I StGB entnommen und stellt einen gesonderten Prüfungspunkt neben der Kausalität dar. Welche Anforderungen an diesen Unmittelbarkeitszusammenhang (oder „gefahrspezifischen Zusammenhang“) zu stellen sind ist umstritten.
Nach einer Ansicht (Letalitätstheorie) muss sich gerade der Körperverletzungserfolg in der schweren Folge, also dem Tod, realisieren. Nach dieser Ansicht müsste der Tod sich gerade aus der Knöchelverletzung resultieren. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Der Tod selber beruht vielmehr auf der fehlerhaften Behandlung und weiteren Erkrankungen des O. Nach dieser Auffassung wäre ein Unmittelbarkeitszusammenhang zu verneinen.
Eine andere Ansicht (BGH) legt die Anforderungen weiter aus und lässt es genügen, wenn allein die Körperverletzungshandlung zum Tod geführt hat. Hier hat das Umwerfen des Hochsitzes auch später zum Tod des O geführt. Nach dieser Ansicht wäre ein Unmittelbarkeitszusammenhang hingegen zu bejahen.
Da beide Ansichten zu verschiedenen Ergebnissen führen, ist ein Streitentscheid erforderlich.
Für die erste Ansicht und damit die engere Auslegung spricht insbesondere die hohe Strafandrohung des § 227 I StGB.  Der Wortlaut „durch“ die Körperverletzung könnte vielmehr auch bedeuten, dass gerade der Erfolg sich im Tod realisieren muss.
Dagegen könnte man den Wortlaut auch anders verstehen und sagen, dass „durch die Körperverletzung“ vielmehr meint, dass es ausreicht, wenn die Handlung zum Tod führt. Der Wortlaut scheint mithin nicht weiterzuhelfen.
Für die zweite Ansicht spricht jedoch die Systematik. Der Klammerzusatz in § 227 StGB verweist vollumfänglich auch auf §§ 223 – 226 StGB und damit jeweils auch auf ihren Abs. 2, der die Versuchsstrafbarkeit regelt. Beim Versuch fehlt es jedoch notwendig am Körperverletzungserfolg. Daher ist diese Ansicht vorzugswürdig, da sie Systemwidersprüche vermeidet. Die hohe Strafandrohung lässt sich zudem in § 227 II StGB mildern.
Damit liegt der Unmittelbarkeitszusammenhang vor.
 
d) Dem A müsste auch ein objektiver Fahrlässigkeitsvorwurf gem. § 18 StGB gemacht werden können. Indem er den Hochsitz umwarf handelte er jedoch objektiv Sorgfaltspflichtwidrig. Es müsste ihm auch objektiv vorhersehbar gewesen sein, dass der O hätte versterben können. Dies könnte man verneinen, wenn ein Dritter vorsätzlich oder grob fahrlässig dazwischen getreten wäre. Denkbar ist es z.B., wenn der Behandlungsfehler der Ärzte nicht vorhersehbar gewesen wäre. Jedoch muss der konkrete Kausalverlauf nicht in jedem Detail vorhersehbar sein. Es liegt nämlich nicht außerhalb jeglicher Lebenserfahrung, dass bei ärztlicher Behandlung auch nach allen Regeln der ärztlichen Kunst ein Fehler unterläuft. Damit ist auch der objektive Fahrlässigkeitsvorwurf zu bejahen.
[Exkurs: Bearbeiter, die einen Unmittelbarkeitszusammenhang abgelehnt haben, müssten aber die fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB prüfen.]
Mithin liegt der Tatbestand der §§ 227 I, 18 StGB vor.
 
II. Rechtswidrigkeit
Die Tat müsste auch rechtswidrig sein. Nach der Lehre vom Erfolgsunrecht wird die Rechtswidrigkeit tatbestandlich indiziert. Etwaige Rechtsfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Die Tat war rechtswidrig.
 
III. Schuld
A handelte auch schuldhaft.

IV. Ergebnis
A hat sich somit gem. §§ 227 I, 18 StGB strafbar gemacht.

B. Der ebenfalls verwirklichte § 222 StGB tritt subsidiär zurück

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  Vielen Dank an Sinan Akcakaya (Dipl.iur.) für die Zusendung dieses Falls!

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