Die Protestveranstaltung auf dem Friedhof (BVerfG Beschluss vom 20.06. 2014 1 BvR 980/13)

Die Protestveranstaltung auf dem Friedhof (BVerfG Beschluss vom 20.06. 2014 1 BvR 980/13)

Sachverhalt

Am 13. Februar 2012 veranstaltete die Stadt Dresden eine Gedenkveranstaltung auf dem Gelände des Heidefriedhofs zur Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges sowie die Opfer des Alliierten Bombenangriffs auf Dresden am 13. Februar 1945. Die Beteiligung an dem Gedenkzug stand der gesamten Bevölkerung offen. Der Beschwerdeführer Angel erhob - mit drei weiteren Personen etwa fünfzig Meter vor der Gedenkmauer postiert - entlang des Hauptweges des Gedenkzuges ein Transparent mit dem Schriftzug: "Es gibt nichts zu trauern - nur zu verhindern. Nie wieder Volksgemeinschaft - destroy the spirit of Dresden. Den Deutschen Gedenkzirkus beenden. Antifaschistische Aktion". Mit dem Transparent wollte der Beschwerdeführer bekunden, dass er mit der Zielrichtung des Gedenkganges nicht einverstanden sei und gegen diesen ein Zeichen setzen. Das Transparent war für den vorbeiziehenden Trauerzug wenige Minuten sichtbar, bevor anwesende Polizeibeamte den Beschwerdeführer dazu bewegten, das Transparent wieder einzurollen. Die Gedenkveranstaltung auf dem Heidefriedhof konnte anschließend wie geplant durchgeführt werden.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine Verurteilung zu einer Geldbuße von 150 € wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen die Friedhofssatzung und vorsätzlicher Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 Abs. 1 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG). Einen Bußgeldbescheid der Stadt Dresden bestätigte das Amtsgericht mit Urteil vom 9. November 2012; die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers blieb vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg.

Hat eine Verfassungsbeschwerde des A Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitervermerk: Es ist von der Verfassungsmäßigkeit der Friedhofssatzung und des § 118 I OWIG auszugehen.

Die Fallhistorie

Der Fall wurde so am 20.06.2014 entschieden.

Der Problemkreis

Versammlungsrecht Art. 8 I GG/ Grundrechtskonkurrenz

Lösungsskizze

A. Zulässigkeit 

I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgericht 

gem. Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BverfGG 

II. Beschwerdeberechtigung

III. Beschwerdegegenstand

IV. Beschwerdebefugnis, § 90 I BverfGG

V. Rechtswegerschöpfung, § 90 II 1 BverfGG 

VI. Subsidiarität

VII. Frist und Form, §§ 93, 23 BverfGG

VIII. Zwischenergebnis

B. Begründetheit

I. Verletzung der Versammlungsfreiheit gem. Artikel 8 I GG

1. Schutzbereich

a) persönlicher Schutzbereich

b) sachlicher Schutzbereich

(P) Vorliegen einer Versammlung

(P)  Notwendige Teilnehmerzahl

2. Eingriff

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Schranke des Art. 8 II GG

(P) unter freiem Himmel

hier : § 118 OWIG und Friedhofssatzung

b) Verfassungsmäßigkeit des § 118 OWIG und der Friedhofssatzung 

c) Verfassungsgemäße Anwendung im Einzelfall

(P) Verfassungskonforme Auslegung der öffentlichen Ordnung im § 118 OWIG

4. Zwischenergebnis

II. Verletzung der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 I S.1 GG

(P) Grundrechtskonkurrenz

Art. 8 I GG ist lex specialis zu Art. 5 I S. 1 GG

C. Ergebnis 

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Gutachten

Die Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit 

I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgericht 
Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgericht ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BverfGG.

II. Beschwerdeberechtigung
Der Beschwerdeführer A müsste auch beschwerdeberechtigt sein. Beschwerdeberechtigt ist nach Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG „Jedermann“. „Jedermann“ i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG ist derjenige, der Träger der im konkreten Fall in Betracht kommenden Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte ist. Ebenso müsste der A prozessfähig sein. Prozessfähigkeit bedeutet die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst oder durch selbstbestimmte Bevollmächtigte vorzunehmen. Von beiden Eigenschaften ist bei A auszugehen, damit ist A beschwerdefähig.

III. Beschwerdegegenstand
Beschwerdegegenstand kann nach Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. Erfasst sind alle Maßnahmen der Gesetzgebung, der Verwaltung oder der Rechtsprechung. A wendet sich hier gegen ein Strafurteil und damit gegen eine Maßnahme der Rechtsprechung. Das Strafurteil stellt somit einen tauglichen Beschwerdegegenstand dar.

IV. Beschwerdebefugnis, § 90 I BverfGG
Der Beschwerdeführer muss gemäß Art. 93 I Nr. 4 a, § 90 I BVerfGG geltend machen, durch den Beschwerdegegenstand möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein. Das angegriffene belastende Urteil ist an A gerichtet und ohne weiteren Umsetzungsakt ihm gegenüber wirksam, so dass er gegenwärtig und unmittelbar in seinen eigenen Grundrechten betroffen ist. In Betracht kommt eine Verletzung seines Rechts aus Art. 8 I GG und Art. 5 I S.1 GG. Schutzgut des Art.8 I GG ist die Versammlungsfreiheit und auch die kollektive Meinungsäußerung. Grundlage der strafrechtlichen Verurteilung waren wertende Äußerungen des A und der Umstand, dass er sich am Friedhof mit anderen zu einer Kundgabe versammelt hat. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Strafgericht die Relevanz der Art. 8 I, 5 I S. 1 GG für seine Entscheidung übersehen bzw. Bedeutung oder Inhalt der Grundrechte verkannt und damit A in seinen Grundrechten verletzt hat. Folglich ist A beschwerdefähig.

V. Rechtswegerschöpfung, § 90 II 1 BverfGG 
Darüber hinaus statuiert § 90 II 1 BVerfGG das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung. Soweit dem Beschwerdeführer der ordentliche Rechtsweg offen steht, muss dieser vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde grundsätzlich durchlaufen werden. Der A hat, bevor er Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben hat, erst den gesamten strafrechtlichen Instanzenzug erfolglos durchlaufen. Damit ist der ordentliche Rechtsweg für das Begehren des A ausgeschöpft. Das Kriterium der Rechtswegerschöpfung ist für die Verfassungsbeschwerde des A infolgedessen erfüllt.

VI. Subsidiarität
Über die Rechtswegerschöpfung hinaus sind alle Möglichkeiten, gerichtlichen Rechtsschutz mittelbar oder außergerichtlichen Rechtsschutz zu erhalten, auszuschöpfen. Der A hat keine anderen Möglichkeiten sich gegen das Urteil zur Wehr zu setzen, somit ist auch die Subsidiarität gegeben.

VII. Frist und Form, §§ 93, 23 BverfGG
A muss die Verfassungsbeschwerde fristgerecht, d.h. gemäß § 93 I 1 BVerfGG innerhalb eines Monats erheben, und nach §§ 23 I, 92 BVerfGG schriftlich und begründet einreichen.

VIII. Zwischenergebnis
Damit ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

B. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde müsste auch begründet sein. Dies ist der Fall, wenn der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. Das Bundesverfassungsgericht prüft hier nur spezifisches Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Es kommt eine Verletzung von Grundrechten durch das letztinstanzliche Urteil in Betracht. 

I. Verletzung der Versammlungsfreiheit gem. Artikel 8 I GG
Der Beschwerdeführer A könnte in seinem Grundrecht aus Art. 8 I GG verletzt worden sein. Dafür müsste der Schutzbereich eröffnet sein und es müsste ein Eingriff vorliegen, der nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann

1. Schutzbereich
Der Schutzbereich müsste eröffnet sein.

a) Persönlicher Schutzbereich
Art. 8 I GG ist ein Deutschen- Grundrecht. A ist deutscher nach Art. 116 GG, sodass der persönliche Schutzbereich eröffnet ist.

b) Sachlicher Schutzbereich
Fraglich ist, ob auch der sachliche Schutzbereich eröffnet ist. Art. 8 I GG schützt „Versammlungen“. Eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG ist ein Zusammenschluss mehrerer Personen jedenfalls für eine gewisse Dauer und zu einem gemeinsamen Zweck.

Die weiteren Anforderungen an die einzelnen Begriffsmerkmale sind umstritten. Insbesondere ist streitig, wie hoch die notwendige Teilnehmerzahl sein muss, um eine Versammlung bejahen zu können. Eine Ansicht stellt auf § 56 BGB ab und verlangt mind. 7 Personen. Nach einer anderen Ansicht sollen mind. 3 Personen anwesend sein. Die überwiegende Ansicht bejaht eine Versammlung bereits bei 2 Personen. 

Die erste Ansicht nimmt eine viel zu große Einschränkung vor. Auch der Verweis auf § 56 BGB überzeugt nicht, da dieser für Vereine konzipiert ist und auf eine Versammlung i.S.d. Artikels 8 GG nicht übertragen werden kann. Hier haben sich mit A noch drei weitere Personen versammelt, sodass zumindest nach den beiden anderen Ansichten eine ausreichende Teilnehmerzahl vorlag.

Streitig ist auch, welche Anforderungen an den gemeinsamen Zweck zu stellen sind. Nach dem weiten Versammlungsbegriff, ist jeder Zweck beliebiger Art ausreichend, sodass ein Meinungsbildungsprozess nicht zwingend vorliegen muss. Nach dem engen Versammlungsbegriff muss sich der Zweck auf eine öffentliche Angelegenheit beziehen. Der erweiterte Versammlungsbegriff  lässt jeden Zweck ausreichen, solange er sich auf irgendeinen Meinungsbildungsprozess bezieht. Ein Streitentscheid kann jedoch dahinstehen, wenn schon nach der engsten Ansicht ein gemeinsamer Zweck vorliegt.

Hier wollte der A als Gegendemonstration seine Abneigung gegen solche Gedenkveranstaltungen kundtun und nutzte die Gedenkveranstaltung zu einer Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlich bedeutsamen Thema. Damit liegt schon nach dem engen Versammlungsbegriff ein gemeinsamer Zweck vor, sodass ein Streitentscheid dahinstehen kann.

Überdies liegt eine Versammlung auch unabhängig von einer fehlenden Anmeldung vor.

Geschützt wird nach Art. 8 I GG sowohl das „Sich- Versammeln“, als auch die friedliche Kundgabe in Form von Transparenten. Somit liegt hier eine Versammlung vor. Damit ist auch der sachliche Schutzbereich eröffnet.

2. Eingriff
Es müsste auch ein Eingriff vorliegen. Ein Eingriff liegt vor, soweit das Recht sich zu versammeln durch eine staatliche Maßnahme erschwert oder unmöglich gemacht wird. Durch das letztinstanzliche Urteil wird dem A sein künstlerisches Verhalten, das in den Schutzbereich des Art. 8 I GG fällt, unmöglich gemacht. Damit liegt ein Eingriff vor.

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Dies ist der Fall, wenn eine den Schrankenbestimmungen des Grundrechts entsprechende Schranke vorliegt, die ihrerseits verfassungsgemäß ist und im Einzelfall verfassungsgemäß angewandt wurde. 

a) Schranke des Art. 8 II GG
Es müsste eine Schranke vorliegen. Art. 8 II GG enthält einen qualifizierten Schrankenvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel. Maßgebend ist dabei ausschließlich die seitliche Begrenzung des in Frage stehenden Versammlungsortes. Hier war A etwa 50 m von der Gedenkmauer postiert und befand sich damit unter freiem Himmel. Daher kann Art. 8 I GG durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden.

In Betracht kommt hier § 118 OWIG und die Friedhofssatzung.

b) Verfassungsmäßigkeit des § 118 OWIG und der Friedhofssatzung 
Der § 118 OWIG und die Friedhofssatzung müssten verfassungsgemäß sein. Davon ist ausweislich des Bearbeitervermerks auszugehen.

[Anmerkung: Wird eine Satzung abgedruckt, so ist diese zwingend (losgelöst vom Einzelfall!) auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen.]

c) Verfassungsgemäße Anwendung im Einzelfall
Fraglich ist, ob § 118 OWIG und die Friedhofssatzung im Einzelfall verfassungsgemäß angewendet wurden. Eine verfassungsgemäße Anwendung im Einzelfall ist insbesondere dann zu bejahen, wenn innerhalb des Tatbestandsmerkmals der „öffentlichen Ordnung“ im § 118 OWIG das Grundrecht aus Art. 8 I GG hinreichend Berücksichtigung gefunden hat. Da es sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, muss dieser in verfassungskonformer Art und Weise gefüllt werden. Da Grundrechte neben Abwehrrechten auch als objektive Werteordnung solch einen Auslegungscharakter haben, müssen sich die Wertungen des Grundgesetzes auch in solchen ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen niederschlagen.

Hier hat das Gericht die Tragweite des Art. 8 I GG verkannt. Insbesondere wurde nicht berücksichtigt, dass die Versammlung des A, über den privaten Zweck hinaus, einem öffentlichen Meinungsbildungsprozess diente, sodass auf dem Friedhof auch ein kommunikativer Verkehr eröffnet wurde. Selbiges gilt auch für die Auslegung der Friedhofssatzung. Damit kann der Eingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

4. Zwischenergebnis
A ist in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gem. Artikel 8 I GG verletzt.

II. Verletzung der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 I S.1 GG
In Bezug zur Meinungsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 GG stellt sich die Frage nach der Grundrechtskonkurrenz. Auch Art. 8 I schützt die kollektive Meinungsäußerung, sodass Art. 5 I S.1 GG im Wege der Einzelfallspezialität verdrängt wird.

C. Ergebnis 

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Sie hat Aussicht auf Erfolg.

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  Vielen Dank für die Zusendung dieses Falls  an  (Dipl.iur.) Sinan Akcakaya!

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