Welche Schutzgüter werden von § 164 StGB (Falsche Verdächtigung) umfasst?

Überblick

Umstritten ist, welche Rechtsgüter in den Schutzbereich des § 164 StGB fallen. Relevanz erlangt der Meinungsstreit vor allem dann, wenn das Opfer in die falsche Verdächtigung einwilligt. Der Streit entfacht sich nämlich vor allem bei der Frage, ob § 164 StGB nur den Schutz des Einzelnen und/oder (auch) den Schutz der inländisch staatlichen Rechtspflege zum Gegenstand hat. Vertritt man die Ansicht, dass die falsche Verdächtigung allein den Einzelnen schützen soll, führt eine entsprechende Einwilligung zur Straflosigkeit des Täters. Geht man hingegen davon aus, dass der Schutzbereich auch den Schutz der Rechtspflege bezwecken soll, dann ist der Straftatbestand in dieser Hinsicht nicht einwilligungsfäig, mit dem Ergebnis, dass der Täter trotz grundsätzlich wirksamer Einwilligung des Betroffenen strafbar bleibt.

Die Ansichten und ihre Argumente

1. Ansicht

§ 164 StGB hat zwei Schutzgüter zum Gegenstand. Einerseits wird der Schutz des Einzelnen vor ungerechtfertigter staatlicher Verfolgung, andererseits der Schutz der inländischen staatlichen Rechtspflege vor ungerechtfertigter Beanspruchung und Irreführung bezweckt.1 Beide Schutzzwecke stehen dabei alternativ nebeneinander.2 Die Verletzung eines der Schutzgüter führt also zur Verwirklichung des Tatbestandes.

Argumente für diese Ansicht

Nur so lässt sich rechtfertigen, dass § 164 StGB einerseits auch bei einem Einverständnis anwendbar ist, andererseits aber auch dann, wenn ein Inländer bei einer ausländischen – und daher nicht geschützten – Behörde falsch verdächtigt wird.3

2. Ansicht - Rechtspflegetheorie4

Das Schutzgut ist allein auf den Schutz der inländischen staatlichen Rechtspflege beschränkt.
Der Schutz des Einzelnen wird nur mittelbar bewirkt.

Argumente für diese Ansicht

Der Schutz des Einzelnen entsteht nur mittelbar. Es handelt sich lediglich um einen Schutzreflex.5

Die Beeinträchtigung des betroffenen Individuums ist nur die mehr oder weniger häufige Folge einer Beeinträchtigung der staatlichen Rechtspflege.

Auch aus der systematischen Stellung des § 164 StGB folgt, dass er nicht zugleich den Individualschutz zum Gegenstand haben soll.6

Würde man eine Kumulation der Schutzzwecke annehmen, hätte dies zur Konsequenz, dass bei der Einwilligung des falsch Angeschuldigten § 164 StGB zu verneinen wäre.7

3. Ansicht - Individualgutstheorie8

Allein der Schutz des Betroffenen vor ungerechtfertigter staatlicher Verfolgung ist vom Schutzzweck des § 164 StGB erfasst, sodass eine Einwilligung zur Straflosigkeit des Täter führt.
Die Auffassung lehnt eine Schutzzweckdoppelung generell ab, und vertritt eine monistische Schutzzweckauffassung.

Argumente für diese Ansicht

Argument gegen die Schutzzweckdoppelung generell: Es ist gerade Aufgabe der Rechtsdogmatik, den Schutzzweck auf einzelne Belange zu beschränken.

Werden als Schutzgüter einer Strafvorschrift alle irgendwie in Betracht kommenden Schutzbelange akzeptiert, verfehlt die Rechtsdogmatik eine ihr obliegende Aufgabe, wenn sie diese Vervielfachung in Form der Alternativität der Schutzzwecke zulässt. Ihr Aufgabe besteht gerade darin, aus zahlreichen persönlichen und sozialen Belangen einzelne Stränge herauszulösen und als Leitfäden für die Tatbestandsbearbeitung zu präparieren.
Eine Vervielfachung der Schutzzwecke birgt die Gefahr in sich, durch Auslegung die Wortlautgrenze zu überschreiten.9

Es ist strukturierter, auf die Möglichkeit abzustellen, dass der Einzelne durch die Maßnahme geschädigt wird.

Die in § 164 II StGB genannten behördlichen Verfahren und Maßnahmen sind einerseits nicht nur Rechtspflegeverfahren und -maßnahmen, umfassen allerdings auch nicht alle behördlichen Verfahren und Maßnahmen. Daher ist es strukturierter, auf einen anderen Gesichtspunkt abzustellen, nämlich auf die Möglichkeit, dass ein Einzelner durch die Maßnahme geschädigt wird.10

Das durch das Verhalten des Täter ausgelöste staatliche Vorgehen zwingt, weil es auch bei Falschheit des Verdachts in der Regel rechtmäßig ist, den Verdächtigten, sich dem betreffenden Verfahren ohne Rücksicht auf Schuld und Unschuld zu unterwerfen.11

  • 1. BGHSt 5, 66 (68).; Rengier, BT II, § 50, Rn. 1, Aufl. 15.; Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, StGB, § 164, Rn. 1a. Aufl. 29.; Lackner/Kühl, StGB, § 164, Rn. 1, Aufl. 28.
  • 2. Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, StGB, § 164, Rn. 1a. Aufl. 29.
  • 3. Schönke/Schröder/Lenckner/Bosch, StGB, § 164, Rn. 1a. Aufl. 29.
  • 4. SK/Rudolphi, StGB, § 164, Rn. 1, Aufl. 5/6.
  • 5. SK/Rudolphi, StGB, § 164, Rn. 1, Aufl. 5/6.
  • 6. SK/Rudolphi, StGB, § 164, Rn. 2, Aufl. 5/6.
  • 7. SK/Rudolphi, StGB, § 164, Rn. 2, Aufl. 5/6.
  • 8. NK/Vormbaum, StGB, § 164, Rn. 10, Aufl. 4.
  • 9. NK/Vormbaum, StGB, § 164, Rn. 9 iVm vor § § 153, Rn. 26, Aufl. 4.
  • 10. NK/Vormbaum, StGB, § 164, Rn. 10, Aufl. 4.
  • 11. NK/Vormbaum, StGB, § 164, Rn. 10, Aufl. 4.

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