Pflichtexemplar Fall - BVerfGE 58, 137 ff
Sachverhalt
Das Bundesland A möchte gewährleisten, dass alle Bürger und deren Nachkommen die Möglichkeit erhalten, sich über alle Druckwerke der heutigen Zeit in öffentlichen Bibliotheken zu informieren. Der Landtag des Landes A erlässt daher nach ordnungsgemäßem Verfahren ein Pflichtexemplargesetz (PfEG). Sein § 1 lautet:
§ 1
Von jedem Druckwerk, das innerhalb des Landes A erscheint, hat der Verleger ein Stück (Pflichtexemplar) unentgeltlich und auf eigene Kosten an eine nachstehende Bibliothek abzugeben. (…)
Der Verleger B hat sich auf die Erstellung besonders wertvoller bibliophiler Bücher in geringen Auflagen (ca. 50-500) sowie äußerst teurer Original-Graphiken spezialisiert. B hält das Gesetz für völlig unverhältnismäßig und weigert sich die Werke an die Bibliotheken zu geben.
Von der zuständigen Behörde erhält er daraufhin einen Bescheid, in dem er erneut zur Abgabe aufgefordert wird. Der Widerspruch des B, in dem dieser noch einmal auf seine besondere Situation hinweist, wird zurückgewiesen. Er sieht sich massiv in seinem Eigentumsrecht beeinträchtigt, wenn er gezwungen wird seine Werke im Wert von teilweise einigen tausend Euro ohne jedwede Entschädigung einfach an eine öffentliche Bibliothek abzugeben. Schließlich führt er an, seine Situation könne nicht einfach mit der eines Großverlages verglichen werden, da diese große Auflage produziere und daher eher ein Einzelexemplar abgeben könne.
B klagt und hat vor keinem der Gerichte Erfolg. Nun will er vor dem BVerfG eine Verfassungsbeschwerde erheben.
Die Fallhistorie
Das BverfG entschied, dass es ausgleichspflichtige gesetzliche Schranken des Eigentumsrechts geben kann.
Der Problemkreis
Staatshaftung im Rahmen der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen.
Lösungsskizze
B wendet sich gegen, das seine Abgabepflicht bestätigende, Urteil. In Betracht kommt daher eine Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. Diese hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Beschwerdeberechtigung
B = natürliche Person (+)
II. Beschwerdegegenstand letztinstanzliches bestätigendes Urteil = Akt der Judikative (+)
III. Beschwerdebefugnis
1. Möglichkeit einer Verletzung (+ )
2. Selbst gegenwärtig und unmittelbar (+)
IV. Rechtswegeerschöpfung und Subsidiarität (+)
V. Form und Frist (+)
VI. Ergebnis Die VB des B ist zulässig.
B. Begründetheit
I. Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit)
1. Schutzbereich Eigentum an den Büchern (+)
2. Eigentumsrelevante Maßnahme durch die Abgabepflicht (+)
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Verfassungsmäßige Rechtsgrundlage
aa) Generelle Einschränkbarkeit des Art. 14 I GG
bb) Qualifikation des vorliegenden Eingriffs Inhalts- und Schrankenbestimmung ( +)
cc) Verfassungsmäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung (+)
b) Verfassungsmäßige Anwendung (-)
4. Ergebnis zu Art. 14 I GG
II. Art. 3 I GG
III. Ergebnis zur Begründetheit
C. Gesamtergebnis
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Gutachten
B wendet sich gegen das seine Abgabepflicht bestätigende Urteil. In Betracht kommt daher eine Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. Diese hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Beschwerdeberechtigung
B müsste zunächst beschwerdeberechtigt sein. Beschwerdeberechtigt ist gemäß § 90 I BVerfGG jedermann und damit jedenfalls jede natürliche Person. Damit ist der B als natürliche Person beschwerdeberechtigt.
II. Beschwerdegegenstand
Die Verfassungsbeschwerde des B müsste sich gegen einen tauglichen Beschwerdegegenstand richten. Tauglicher Beschwerdegegenstand ist gemäß § 90 I BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt. Hier wendet sich B gegen das letztinstanzliche Urteil, das die Pflicht zur Abgabe bestätigte und damit gegen einen Akt der Judikative. Die Verfassungsbeschwerde des B ist damit gegen einen tauglichen Beschwerdegegenstand gerichtet.
III. Beschwerdebefugnis
B muss weiterhin beschwerdebefugt sein. Dies setzt voraus, dass er geltend machen kann, durch das letztinstanzliche Urteil selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein.
1. Möglichkeit einer Verletzung
Eine Grundrechtsverletzung muss zunächst nach dem Vortrag des B als möglich erscheinen. Eine solche Möglichkeit besteht dann, wenn eine Verletzung nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann. Im vorliegenden Fall erscheint es nicht als gänzlich ausgeschlossen, dass die Zwangsabgabe von besonders wertvollen Büchern den B in seinem Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 I GG verletzt.Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass nicht ausreichend gewürdigt wurde, dass sich B im Vergleich zu größeren Verlagen mit größeren Auflagen in einer besonderen Lage befindet. Daher lässt sich auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG nicht ausschließen.
2. Selbst gegenwärtig und unmittelbar
B muss durch das letztinstanzliche Urteil auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Dies ist vorliegend der Fall.
IV. Rechtswegeerschöpfung und Subsidiarität
B müsste auch den Rechtsweg ausgeschöpft haben (§ 90 II BVerfGG). Dies ist ausweislich des Sachverhalts der Fall.
V. Form und Frist
Die Verfassugsbeschwerde ist schriftlich mit Begründung (§ 23 BVerfGG) und innerhalb eines Monats (§ 93 I 1 BVerfGG) einzulegen. Davon ist vorliegend auszugehen.
VI. Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde des B ist zulässig.
B. Begründetheit
Die Verfassugsbeschwerde des B ist begründet, wenn dieser durch das letztinstanzliche Urteil tatsächlich in seinen Grundrechten aus Art. 14 I und/oder Art. 3 I GG verletzt wurde.
I. Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit)
In Betracht kommt zunächst eine Verletzung der Eigentumsfreiheit des B (Art. 14 I GG).
1. (Probeweise) Eröffnung des Schutzbereichs
Zunächst müsste der Schutzbereich des Art. 14 I GG eröffnet sein. B müsste also Rechte an den abgegebenen Werken haben, die vom Schutzbereich des Art. 14 I GG umfasst sind. Dieser umfasst alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten ebenso ausschließlich wie das Eigentum an einer Sache durch die Rechtsordnung zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeordnet sind. Insoweit enthält Art. 14 GG einen normgeprägten Schutzbereich. Erfasst sind daher das zivilrechtliche Eigentum, aber auch Urheberrechte, Aktien oder Warenzeichen. Durch die Herstellung erwirbt der B zunächst das zivilrechtliche Eigentum an allen Werken. Damit ist der Schutzbereich des Art. 14 I GG eröffnet.
2. Eigentumsrelevante Maßnahme
Durch das Urteil müsste zudem eine eigentumsrelevante Maßnahme in den Schutzbereich des Art. 14 I GG vorliegen. Hier wird die Pflicht zur Abgabe der Bücher des B durch das Urteil endgültig bestätigt. Daher muss B nun einen Teil seines Eigentums an eine Bibliothek abgeben. Über diesen Teil kann er anschließend nicht mehr frei verfügen. Daher stellt das Urteil eine eigentumsrelevante Maßnahme dar.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Die, durch das Urteil bewirkte, eigentumsrelevante Maßnahme ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie auf einer verfassungsmäßigen Rechtsgrundlage beruht und von dieser auch im konkreten Fall verfassungsgemäß Gebrauch gemacht wurde.
a) Verfassungsmäßige Rechtsgrundlage
Zunächst müsste die gesetzliche Grundlage (§ 1 PfEG), auf der das Urteil beruht, verfassungsgemäß sein.
aa) Generelle Einschränkbarkeit des Art. 14 I GG
Art. 14 I GG stellt je nach Eingriffsart an eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung unterschiedliche Anforderungen. Sofern es sich um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung handelt, ist erforderlich, dass das zugrundeliegende Gesetz formell und materiell verfassungsgemäß ist. Es greift der einfache Gesetzesvorbehalt aus Art. 14 I 2 GG, bei dem der Gesetzgeber die Eigentumsfreiheit mit der Sozialpflichtigkeit des Art. 14 II GG in einen Ausgleich bringen muss. Handelt es sich jedoch um eine Enteignung, so müssen die Voraussetzungen des Art. 14 III GG erfüllt sein. Die Enteignung muss also durch oder auf Grund eines Gesetzes zum Wohle der Allgemeinheit erfolgen. Zudem muss das Gesetz Art und Ausmaß der Entschädigung regeln. Vorliegend ist es notwendig, zunächst eine Qualifikation der eigentumsrelevanten Maßnahme vorzunehmen.
bb) Qualifikation der vorliegenden eigentumsrelevanten Maßnahme
Fraglich ist, ob es sich im vorliegenden Fall um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung oder um eine Enteignung handelt. Bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung wird abstrakt-generell definiert, was für die Zukunft unter Eigentum zu verstehen ist. Damit bestimmen solche Regelungen den Inhalt des Eigentums. Die Enteignung liegt dabei in Abgrenzung zur Inhalts- und Schrankenbestimmung dann vor, wenn konkrete subjektive Eigentumspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben vollständig oder teilweise entzogen werden (staatliche Güterbeschaffung).
Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass der Gesetzgeber generell- abstrakt eine Ablieferungspflicht für alle Verleger begründet. Da hergestellte Werke von Anfang an mit dieser Abgabepflicht belastet sind, kann auch kein unbelastetes Eigentum entstehen.Auch die Tatsache, dass nur ein einziges Exemplar abzugeben ist, ändert hieran nichts. Denkbar ist es aber, dass eine Enteignung zumindest für diejenigen Werke vorliegt, die bereits vor Erlass dieses Gesetzes bestanden. Diese waren bei ihrer Entstehung noch nicht mit dieser Pflicht belastet. Jedoch ist für eine Enteignung , die durch sie begründete Ungleichbehandlung, im Vergleich zu anderen Rechtsträgern, entscheident. Dann müsste jemandem ein bestimmtes Recht entzogen werden, während es bei anderen Rechtsträgern weiterhin Bestand hat. Eine solche Ungleichbehandlung liegt jedoch dann nicht vor, wenn bei einer Neuordnung Rechte abgeschafft werden, für die es im neuen Recht keine Entsprechung gibt. Daher ist im folgenden Fall die Abgabepflicht auch für die Eigentümer der Exemplare, die vor der Neuregelung bereits vorhanden waren, nicht als Enteignung zu qualifizieren.
Im vorliegenden Fall handelt es sich daher um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung. Dennoch muss der Gesetzgeber die besondere Position der Abgabepflichtigen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (etwa durch Übergangsregelungen) berücksichtigen, ohne dass dadurch die Qualifikation als Inhalts- und Schrankenbestimmung in Frage zu stellen wäre.
cc) Verfassungsmäßigkeit der Inhalts- und Schrankenbestimmung
Die Inhalts- und Schrankenbestimmung bedarf zu ihrer Rechtfertigung eines formell und materiell verfassungsmäßigen Gesetzes. Vorliegend ist die formelle Verfassungsmäßigkeit gegeben. Fraglich ist, ob das Gesetz den Konflikt zwischen der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 I GG und der gleichzeitig bestehenden Sozialpflicht des Eigentums in verhältnismäßiger Weise aufzulösen vermag. Hierfür muss der Gesetzgeber zunächst einen legitimen Zweck durch ein legitimes Mittel verfolgen. Vorliegend ist der Zweck sicherzustellen, dass das geistige Werk einer Generation auch zukünftigen Generationen offen steht. Dies stellt einen legitimen Zweck dar, der durch eine Abgabepflicht auch mit einem legitimen Mittel verfolgt wird. Diese Abgabepflicht ist auch geeignet, dem Dokumentations- und Informationsbedürfnis zu dienen.
Zudem müsste die Regelung auch erforderlich sein. Dies ist dann der Fall, wenn es kein milderes, ebenso wirksames Mittel gibt, das Dokumentations- und Informationsbedürfnis zu befriedigen. Vorliegend würde auch eine entgeltliche Abgabeverpflichtung in Frage kommen. Dagegen spricht ein höherer Verwaltungsaufwand und zudem eine Belastung der öffentlichen Hand durch die Entgeltlichkeit der Abgabe. Das Ziel eine einfache und effektive Dokumentation der Literatur der jetzigen Zeit zu ermöglichen, wäre dies jedoch nicht förderlich. Zudem sind Diskussionen um die Preispolitik nicht ausgeschlossen. Insofern stellt sich eine solche entgeltliche Pflicht als weniger effektiv dar. Ebenso wäre es denkbar, die Verleger zu einer unentgeltlichen Abgabe von Kopien der Werke zu verpflichten. Jedoch würde dies dem Dokumentations- und Informationsbedürfnis zuwider laufen, da diesem durch die Abgabe von Originalen mehr gedient wäre. Zuletzt muss das Gesetz auch als angemessen erscheinen, also die individuelle Freiheit nicht unzumutbar zugunsten der Sozialpflicht einschränken. Für die Verleger die eine größere Auflage produzieren, ist der wirtschaftliche Nachteil durch die Abgabepflicht geringer. Für kleinere Verleger, die eine kleinere Auflage und damit auch höhere Kosten produzieren, wäre der wirtschaftliche Nachteil größer. Denn die geringere Auflage betrifft Werke deren Wert bei mehreren tausend Euro liegen kann. Für diese Personengruppe stellt sich die Regelung daher als unverhältnismäßig dar.
Der Gesetzgeber hätte für kleine Verleger eine Entschädigung im Sinne der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung vorsehen müssen. Da dies jedoch nicht der Fall ist, ist das Gesetz für diese Personen unverhältnismäßig und daher wegen eines Verstoßes gegen Art. 14 I GG zumindest teilnichtig.
b) Verfassungsmäßige Anwendung
Da bereits die Grundlage des Urteils verfassungswidrig ist, braucht auf die Anwendung derselben durch das Gericht nicht weiter eingegangen zu werden.
4. Ergebnis zu Art. 14 I GG
Das Urteil verstößt mangels gesetzlicher Grundlage in Bezug auf kleine Verleger gegen Art. 14 I GG.
II. Art. 3 I GG
In Betracht kommt zudem ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG. Dieser verlangt, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Verschiedenheit und Eigenart ungleich zu behandeln. Vorliegend müssen alle Verleger - gleich welcher Größe - ein Pflichtexemplar abgeben. Es wird nicht zwischen kleinen und großen Verlegern differenziert. Eine solche Gleichbehandlung ist dann nicht zulässig, wenn zwischen den beiden Normadressaten Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass die gleichartige Behandlung nicht mehr zu rechtfertigen ist. In diesem Fall ist die Wirkung der gesetzlichen Regelung unter wirtschaftlichen Aspekten für kleine Verleger ungemein größer als für die größeren. Daher war es notwendig, dass der Gesetzgeber hier eine Differenzierung vornimmt. Da er dies nicht getan hat, erscheint die Regelung völlig unangemessen. Sie verstößt daher gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG.
III. Ergebnis zur Begründetheit
Der § 1 PfEG verstößt hinsichtlich der kleineren Verleger gegen Art. 14 I GG sowie gegen Art. 3 I GG. Das Gesetz ist insoweit teilnichtig. Da dem Urteil des BVerfG dieses Gesetz zugrunde liegt, ist die Verfassungsbeschwerde des B daher begründet.
C. Gesamtergebnis
Die Verfassungsbeschwerde des B ist sowohl zulässig als auch begründet.
Du hast noch Fragen zu diesem Fall? Dann lass Dir das Thema vom ersten Semester bis zum zweiten Examen vom Profi erklären - und das kostenlos für drei Tage auf Jura Online
Vielen Dank für die Zusendung dieses Falls an Jessica Große-Wortmann (Dipl.iur.) und Betreiberin des Blogs Juristischer Gedankensalat!
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