Die Notwehrprovokation (abgewandelt: BGH, 03.06.2009 - 2 StR 163/09)

Die Notwehrprovokation (abgewandelt: BGH, 03.06.2009 - 2 StR 163/09)

Sachverhalt
An einem Rosenmontag befindet sich X mit der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause. Da er ein paar Bier konsumiert hat, musste er den Wagen ausnahmsweise stehen lassen. Genervt von den grölenden „Karnevalisten“ sucht sich X ein Plätzchen in den hinteren Reihen.
Kurze Zeit später setzt sich der B - verkleidet als „ Vampir- neben den X. Auch B war auf dem Karnevalszug und scheint leicht angeheitert, aber keineswegs betrunken. X ist jedoch vom Gesang und dem Auftreten des B genervt. So beschließt er den B von seinem Platz „wegzuekeln“. Dafür öffnet er das Fenster, da er weiß, dass der nur leicht bekleidete B frieren wird und hofft, dass er dadurch seinen Platz verlässt.
B reagiert allerdings anders als erwartet. Er schnauzt den X an, er solle das Fenster schließen, bevor er sich „ den Hintern abfriert.“ Dieses Vorgehen wiederholt sich noch einmal. Nunmehr droht der B dem X Prügel an, für den Fall, dass er nochmal das Fenster öffnet.
Davon unerschrocken legt X sein mitgeführtes Klappmesser auf die Ablage und hofft dadurch den B einzuschüchtern. Dann öffnet er erneut das Fenster.
Gerade als der X das Fenster öffnen will, steht der B ruckartig auf und holt zum Schlag aus. In diesem Moment ergreift X das Messer und sticht dem B ruckartig zweimal in den Unterbauch. Dabei nimmt er den Tod des B billigend in Kauf.
B wird sofort ins Krankenhaus eingeliefert und erliegt dort seinen Stichverletzungen.
 
Strafbarkeit des X ?

Die Fallhistorie

Der Originalfall wurde am 09.06. 2009 vom 2. Strafsenat des BGH entschieden. Der Sachverhalt wurde stark abgewandelt, behandelt jedoch dieselbe Problematik.
 

Der Problemkreis

Schwerpunkt des Falles ist die Rechtswidrigkeit. Insbesondere problematisch ist die Frage, inwieweit ein mögliches Notwehrrecht des X, aufgrund von sozialethischen Erwägungen, eingeschränkt werden muss. Dabei ist zwischen der so genannten Absichtsprovokation und der Fahrlässigkeitsprovokation zu unterscheiden. 
 

Lösungsskizze

A. Totschlag gem. § 212 I StGB
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand (+)
2. Subjektiver Tatbestand (+)
II. Rechtswidrigkeit
(P) Notwehr gem. § 32 StGB
1. Notwehrlage
a) Angriff
b) rechtswidrig
c) gegenwärtig
2. Notwehrhandlung
a) Erforderlichkeit (+)
(P) Einsatz eines Messers ohne Androhung
b) Gebotenheit (-)
(P) Einschränkung des Notwehrrechts
aa) ersichtlich schuldlos Handelnder (-)
bb) Absichtsprovokation (-)
cc) Fahrlässigkeitsprovokation (+)
à Abgestuftes Notwehrrecht
III. Schuld
IV. Ergebnis

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Gutachten

A. Totschlag gem. § 212 I StGB
X könnte sich durch das Einstechen mit dem Messer wegen Totschlags gem. § 212 I StGB strafbar gemacht haben.
 
I. Tatbestand
Dafür müsste der Tatbestand erfüllt sein.
 
1. Objektiver Tatbestand
X müsste einen anderen Menschen getötet haben. Ausweislich des Sachverhalts ist der B durch die Messerstiche gestorben. Damit liegt der objektive Tatbestand vor.
 
2. Subjektiver Tatbestand
Es müsste auch der subjektive Tatbestand vorliegen. X müsste mit Vorsatz gehandelt haben. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände.
Hier hat der X mit einem Messer auf B eingestochen. Dabei wollte er den B zwar nicht töten, allerdings nahm er seinen Tod billigend in Kauf. Somit handelte X mit Eventualvorsatz. Damit ist auch der subjektive Tatbestand zu bejahen.
Damit liegt der Tatbestand vor.
 
II. Rechtswidrigkeit
Fraglich ist allerdings, ob der X auch rechtswidrig gehandelt hat. Nach der Lehre vom Erfolgsunrecht wird die Rechtswidrigkeit grundsätzlich tatbestandlich indiziert. Möglicherweise liegt hier jedoch ein Rechtfertigungsgrund vor.
X könnte gem. § 32 StGB in Notwehr gehandelt haben. Dafür müssten eine Notwehrlage und eine Notwehrhandlung vorliegen.
 
1. Notwehrlage
Zunächst müsste eine Notwehrlage vorliegen. Dafür müsste ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff vorliegen.
Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen. Gegenwärtig ist der Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, bereits begonnen hat oder noch nicht abgeschlossen ist. Rechtswidrig ist der Angriff, wenn er seinerseits nicht durch Rechtfertigungsgründe gedeckt ist.
Hier holte der B gerade zum Schlag aus, um den X zu verletzen. Dieser Schlag war auch seinerseits nicht durch Rechtfertigungsgründe gedeckt. Der Angriff stand auch unmittelbar bevor. Damit ist eine Notwehrlage zu bejahen.
 
2. Notwehrhandlung
Fraglich ist, ob auch eine Notwehrhandlung i.S.d. § 32 StGB vorliegt.
Dafür müssten die Messerstiche erforderlich und geboten gewesen sein.
 
a) Erforderlichkeit
Die Messerstiche müssten erforderlich gewesen sein. Die Erforderlichkeit ist zu bejahen, wenn kein milderes und gleich wirksames Mittel vorliegt, das den Angriff gleich effektiv abwehrt. Dabei ist die konkrete Kampflage maßgeblich. Problematisch ist hier, dass der X zur Abwehr ein tödliches Werkzeug (Messer) eingesetzt hat. Der Einsatz von lebensgefährlichen und tödlichen Mitteln ist nicht per se ausgeschlossen, da dem Verteidigenden nicht auferlegt werden kann, dass er durch ein milderes Mittel im Einzelfall sein eigenes Leben riskiert. Das Recht muss hier dem Unrecht nicht weichen. Auch kennt § 32 StGB keine Abwägung der Rechtsgüter, sodass auch der Tod eines anderen Menschen gerechtfertigt sein kann. Hier könnte jedoch daran gedacht werden, dass der X vor den Stichen mit dem Messer vorher das Messer hätte androhen können. Dies erscheint in der konkreten Kampfsituation allerdings fraglich, da der B ihn in der Zwischenzeit auch hätte schon angreifen und verletzen können. Daher ist die Erforderlichkeit zu bejahen
[Anmerkung: Bei Schusswaffen wird idR vertreten, dass sie vorher angedroht werden müssen. Dies kommt aber auch auf die konkrete „Kampflage“ an.]
 
b) Gebotenheit
Fraglich ist, ob die Notwehrhandlung auch geboten war. Grundsätzlich wird die Gebotenheit durch die Erforderlichkeit tatbestandlich indiziert. An der Gebotenheit kann es jedoch im Einzelfall fehlen, wenn eine Einschränkung aus sozialethischen Gründen geboten erscheint.
 
aa) Angriff von ersichtlich schuldlos Handelnden
Eine Einschränkung des Notwehrrechts wird gemacht, wenn der Angriff von ersichtlich schuldlos Handelnden kommt. Dazu zählen insbesondere stark alkoholisierte oder psychisch kranke Menschen. Hier könnte angedacht werden, dass auch der B alkoholisiert war. Eine leichte Alkoholisierung reicht allerdings nicht aus. Vielmehr muss der Angreifer „ersichtlich“ schuldlos sein, sodass sich für jeden objektiven Beobachter erkennen lässt, dass der Angreifer aufgrund einer starken Alkoholisierung nicht schuldfähig ist. Hier war der B allerdings nur leicht angeheitert. Dies reicht für eine Einschränkung nicht aus.
 
bb) Absichtsprovokation
Es könnte jedoch eine Absichtsprovokation des X vorliegen. Dies ist der Fall, wenn der Angegriffene die Notwehrlage absichtlich herbeigeführt hat, um den Angreifer unter dem Deckmantel des Notwehrrechts zu verletzen. Es muss ihm gerade darauf ankommen, eine Notwehrlage herbeizuführen. Vorliegend wollte der X den B jedoch nicht unter dem Deckmantel des Notwehrrechts verletzen, sondern wollte vielmehr, dass der B sich woanders hinsetzt. Damit liegt auch keine Absichtsprovokation vor.
 
cc) Fahrlässigkeitsprovokation
Es könnte jedoch eine Fahrlässigkeitsprovokation vorliegen. Diese liegt vor, wenn der Angegriffene die Notwehrlage zwar nicht absichtlich, aber sonst rechtswidrig oder in vorwerfbarer Weise verursacht hat.
Es könnte zunächst ein rechtswidriges Vorverhalten angenommen werden. Der X hat hier sein Messer auf die Ablage gestellt. Dies wäre rechtswidrig, wenn darin eine Drohung gesehen werden könnte. Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels, auf das der Täter Einfluss hat oder zu haben vorgibt. Ob allein das Abstellen des Messers auf die Ablage eine Drohung darstellt ist ziemlich fraglich, da dadurch noch keine konkrete Aussage des Angegriffenen zum Ausdruck kommt. Vielmehr kann für einen objektiven Beobachter auch ein reines Imponieren angenommen werden. Ein rechtswidriges Vorverhalten ist zu verneinen.
Es könnte allerdings ein sozialethische vorwerfbares Vorverhalten vorliegen. Hier hat der X die ganze Zeit versucht den B von seinem Platz „wegzuekeln“, indem er ständig das Fenster aufgemacht hat. Dies diente alleine dazu, den B dazu zu bewegen, aufgrund der kalten Luft seinen Platz zu verlassen. Dabei hatte X keinen vernünftigen Grund den B wegzuekeln. In einem öffentlichen Verkehrsmittel ist es regelmäßig hinzunehmen, dass sich auch Fahrgäste, die einem persönlich nicht sympathisch erscheinen, neben einen setzen. Dass der B gesungen hat vermag diese Aussage nicht zu entkräften. Jedenfalls ist zu berücksichtigen, dass es Rosenmontag war. Zudem hätte der X den B auch höflich auffordern können das Singen einzustellen.
Somit liegt ein sozialethisch vorwerfbares Vorverhalten des X vor.
Dadurch wird das Notwehrecht des Angegriffenen beschränkt.
Wie weit diese Beschränkung geht, hängt dabei vom Einzelfall ab. Dabei ist die Beschränkung umso geringer, je schwerer das Übel ist, das vom Angreifer droht.
Grundsätzlich muss der Angegriffene dabei zunächst Ausweichen und dann Schutz- vor Trutzwehr anwenden. Hier verblieb dem X wohl kaum viel Zeit um dem B auszuweichen. Allerdings hätte der X hier auch um Hilfe rufen können. Er griff jedoch sofort zum Messer und stach zweimal zu, sodass diese Notwehrhandlung im Ergebnis nicht geboten war.
Damit liegt keine Notwehr i.S.d. § 32 StGB vor.
Mithin handelte X rechtswidrig.
 
III. Schuld
X handelte auch schuldhaft
 
IV. Ergebnis
X hat sich gem. § 212 I StGB strafbar gemacht.

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  Vielen Dank an Sinan Akcakaya (Dipl.iur.) für die Zusendung dieses Falls!

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