Der AIDS- Fall (leicht abgewandelt: BGH, 04. 11. 1988- 1 StR 262/88)

Sachverhalt

A ist seit sechs Jahren aidskrank. Dies ist ihm bekannt. Dennoch entschließt er sich, mit seiner neuen Freundin T einvernehmlichen und unverhüteten Geschlechtsverkehr zu haben. Von seiner Erkrankung erzählt er T jedoch nichts, da A glaubt, dass sie ihn sonst verlassen würde. A hofft aber, dass T sich nicht ansteckt. Nach einiger Zeit wird bei T während einer ärztlichen Routinekontrolle der HI-Virus entdeckt.

Nach mehr als drei Wochen hat A noch mit einer weiteren Frau- der C- ungeschützten Geschlechtsverkehr. A hat die 16- jährige C allerdings über seine Aidserkrankung vollumfänglich aufgeklärt. C wollte jedoch den Geschlechtverkehr trotzdem ungeschützt vollziehen. Ihrer Meinung nach sei die Ansteckungsgefahr beim einmaligen Verkehr sowieso nicht allzu hoch. Es blieb beim einmaligen Geschlechtsverkehr mit C. C hat sich dabei nicht mit dem HI-Virus angesteckt.

Wie hat sich A strafbar gemacht?

Die Fallhistorie

Der Fall wurde am 04.11.1988 vom BGH entschieden. Die erste Instanz war das LG Nürnberg.

Der Problemkreis

Der Fall beinhaltet viele interessante Probleme. Insbesondere ist der Tötungsvorsatz des A problematisch. Diesen hat der BGH mit seiner „Hemmschwellentheorie“ abgelehnt. Dies führte aber auch zu weitläufiger Kritik in der Literatur. Bearbeiter müssen im weiteren Verlauf des Gutachtens auch auf die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 223 I, 224 I Nr. 1 2. Alt., Nr. 2 StGB eingehen und den HI-Virus dort subsumieren. Im 2. Tatkomplex wird sodann die Abgrenzung zwischen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und der einverständlichen Fremdgefährdung vorgenommen

Lösungsskizze

Tatkomplex 1 : „Der Geschlechtsverkehr mit T“

A. Strafbarkeit gem. §§ 212 I, 22, 23 I StGB

I. Vorprüfung

II. Tatentschluss (-)

(P) Vorsatz ( „Hemmschwellentheorie“)

III. Ergebnis ( a.A. vertretbar)

B. Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5 StGB

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand des § 223 I StGB

a) körperliche Misshandlung (-) ( a.A. vertretbar)

b) Gesundheitsschädigung (+)

(P) Inkubationszeit bis zum Ausbruch

c) Zwischenergebnis

2. Objektiver Tatbestand der §§ 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5 StGB

a) Durch Beibringen von anderen gesundheitsschädlichen Stoffen (+)

b) Mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (+)

c) Zwischenergebnis

3. Subjektiver Tatbestand

a) Grunddelikt (+)

b) Qualifikation (+)

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld

IV. Ergebnis

Tatkomplex 2: „Der Geschlechtsverkehr mit C“

Strafbarkeit gem. §§ 223, 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5, II, 22, 23 I StGB

I. Vorprüfung

II. Tatentschluss

(P) Abgrenzung eigenverantwortliche Selbstgefährdung/ einverständliche Fremdgefährdung

III. Ergebnis

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Gutachten

Tatkomplex 1 : „Der Geschlechtsverkehr mit T“

A. Strafbarkeit gem. §§ 212 I, 22, 23 I StGB

A könnte sich durch den ungeschützten Beischlaf mit T gem. §§ 212 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben.

I. Vorprüfung

T ist nicht verstorben, sodass die Tat nicht vollendet ist. Die Strafbarkeit des Versuchs ergibt sich aus §§ 23 I, 12 I StGB.

II. Tatentschluss

Fraglich, ob der A auch Tatentschluss bzgl. der Tötung eines anderen Menschen hatte. Der Tatentschluss umfasst den Vorsatz über alle objektiven Tatbestandmerkmale und sonstige subjektive Merkmale. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestands, in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände. Hier hat A insgeheim gehofft, dass sich T nicht mit dem HI-Virus ansteckt. Zwar führt die Ansteckung mit dem HI-Virus zum späteren Ausbruch der Aidserkrankung und diese ist zwar auch meist tödlich, dennoch ist fraglich, ob der A diesen Tod auch billigend in Kauf genommen hat. Dafür könnte sprechen, dass A über seine Erkrankung genau Bescheid wusste und sich auch bewusst war, dass die Erkrankung im weiteren Verlauf des Lebens tödlich enden kann. Dagegen könnte aber sprechen, dass bei der Tötung eines Menschen im Gegensatz zu einer Körperverletzung eine besondere Hemmschwelle überschritten werden muss, sodass die Prüfung des Tötungsvorsatzes viel umfänglicher ausfallen muss. A müsste vielmehr auch den irgendwann zu erwartenden Tod und nicht nur die mögliche Ansteckung mit dem Virus billigend in Kauf genommen haben. Aufgrund fehlender Sachverhaltsangaben wird der Tötungsvorsatz hier daher in dubio pro reo abgelehnt. (a.A. vertretbar).

Damit liegt kein Tatentschluss vor.

III. Ergebnis

A hat sich nicht gem. §§ 212 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht.

B. Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5 StGB

A könnte sich durch den ungeschützten Beischlaf gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 1 Alt.2, Nr. 5 StGB strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

Dafür müsste der objektive und subjektive Tatbestand der §§ 223 I, 224 I Nr. 1 Alt.2, Nr. 5 StGB vorliegen.

1. Objektiver Tatbestand des § 223 I StGB

Zunächst müsste der objektive Tatbestand des Grunddelikts gem. § 223 I StGB vorliegen.

a) körperliche Misshandlung

Es könnte eine körperliche Misshandlung vorliegen. Körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Fraglich ist, ob der HI-Virus das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Dagegen spricht, dass sich die Infektion selbst nicht körperlich bemerkbar macht. Dafür könnte sprechen, dass auch die Infektion selbst den Betroffenen in seiner Lebensführung erheblich einschränken kann. Dies ist jedoch aus dem Sachverhalt nicht ersichtlich. Es ist davon auszugehen, dass die Infektion alleine sich noch nicht körperlich bemerkbar macht. Damit liegt keine körperliche Misshandlung vor. ( a.A. gut vertretbar).

b) Gesundheitsschädigung

Es könnte eine Gesundheitsschädigung vorliegen. Gesundheitsschädigung ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalfall abweichenden pathologischen Zustands. Die Infektion mit dem HI-Virus könnte das Hervorrufen eines vom Normalfall abweichenden pathologischen Zustandes sein. Dagegen könnte zwar sprechen, dass die Inkubationszeit zwischen der Infektion und dem Ausbruch der Aidserkrankung sehr lang sein kann, jedoch ist schon die Infektion an sich ein vom Normalfall abweichender pathologischer Zustand. Damit liegt eine Gesundheitsschädigung vor.

 

c) Zwischenergebnis

Damit liegt der objektive Tatbestand des § 223 I StGB vor.

2. Objektiver Tatbestand der §§ 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5 StGB

Es müsste auch der Tatbestand der Qualifikation der §§ 224 I Nr.1 Alt. 2, Nr. 5 StGB vorliegen.

a) Durch Beibringen von anderen gesundheitsschädlichen Stoffen

Die Gesundheitsschädigung könnte durch Beibringen von anderen gesundheitlichen Stoffen hervorgerufen worden sein. Gesundheitsschädigende Stoffe sind Viren, Bakterien oder Flüssigkeiten, die gesundheitsrelevant sind. Beibringen liegt vor, wenn der Stoff eingeführt oder aufgetragen wird, sodass er seine Wirkung entfalten kann. Der HI-Virus ist ein anderer gesundheitsschädlicher Stoff. Durch den Geschlechtsverkehr hat A den HI-Virus in die T eingeführt. Damit liegt ein Beibringen von anderen gesundheitsschädlichen Stoffen vor.

b) Mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung

Die Gesundheitsschädigung könnte weiterhin mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung hervorgerufen worden sein. Wie bereits ausgeführt, ist der Ausbruch der eigentlichen Aidserkrankung zwar ungewiss, jedoch muss gerade nicht der Inkubationserfolg, sondern lediglich die Lebensgefahr vorliegen. Diese Gefahr ist schon mit der HIV-Infektion gegeben. Damit liegt auch diese Voraussetzung vor.

3. Subjektiver Tatbestand

Es müsste auch der subjektive Tatbestand des Grunddelikts und der Qualifikation vorliegen.

a) Grunddelikt

A müsste bzgl. des § 223 I StGB vorsätzlich gehandelt haben. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tat. Hier hat A zwar gehofft, dass die T sich nicht ansteckt, jedoch nahm er zumindest billigend in Kauf, dass T sich mit dem Virus ansteckt. Damit handelte A vorsätzlich bzgl. einer Gesundheitsschädigung.

b) Qualifikation

A handelte auch zumindest mit Eventualvorsatz bzgl. der §§ 224 I Nr.1 Alt. 2, Nr. 5 StGB.

II. Rechtswidrigkeit

A müsste auch rechtswidrig gehandelt haben. Nach der Lehre vom Erfolgsunrecht wird die Rechtswidrigkeit tatbestandlich indiziert. A handelte somit rechtswidrig.

III. Schuld

A müsste auch schuldhaft gehandelt haben. Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. A handelte auch schuldhaft.

IV. Ergebnis

Damit hat sich A gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 1 Alt.2, Nr. 5 StGB strafbar gemacht.

Tatkomplex 2 : „Der Geschlechtsverkehr mit C“

Strafbarkeit gem. §§ 223, 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5, II, 22, 23 I StGB

Indem A mit der C den Geschlechtsverkehr ungeschützt vollzogen hat, könnte er sich gem. §§ 223, 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5, II, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben.

I. Vorprüfung

C hat sich ausweislich des Sachverhalts nicht mit dem HI-Virus angesteckt, sodass die Tat nicht vollendet ist. Die Strafbarkeit des Versuchs ergibt sich aus § 224 II StGB.

II. Tatentschluss

Es müsste der Tatentschluss vorliegen. Der Tatentschluss umfasst den Vorsatz über alle objektiven Tatbestandmerkmale und sonstige subjektive Merkmale. Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestands, in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände. Hier hat A zumindest billigend in Kauf genommen, dass sich C mit dem HI-Virus ansteckt, sodass er vorsätzlich bzgl. einer Gesundheitsschädigung handelte. Fraglich ist jedoch, ob der Tatentschluss dadurch entfällt, dass A sich vorstellte, dass eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung seitens der C vorlag. Wenn diese vorliegt, ist der Vorsatz bzgl. der objektiven Zurechnung ausgeschlossen. Insoweit ist hier eine Abgrenzung zwischen einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und einer einverständlichen Fremdgefährdung vorzunehmen.

Die Abgrenzung erfolgt nach der Tatherrschaft. Wenn das Opfer die Tatherrschaft hat, ist grundsätzlich von einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung auszugehen. Hat der Täter die Tatherrschaft, dann ist von einer einverständlichen Fremdgefährdung auszugehen.

Um die Tatherrschaft des A zu bejahen, müsste er zumindest überlegenes Sachwissen haben. A wird um die Folgen einer HIV-Infektion als Erkrankter sehr wahrscheinlich ein erhebliches Sachwissen haben. Fraglich ist jedoch, ob dieses Wissen auch „überlegen“ ist, wenn er die C vollumfänglich über die Krankheit aufgeklärt hat. Dagegen könnte sprechen, dass C erst 16 Jahre alt ist, sodass sie sich über die Konsequenzen ihres Handelns, trotz der Aufklärung durch A nicht bewusst ist. Dagegen spricht allerdings schon, dass selbst der Gesetzgeber die sexuelle Einsichtsfähigkeit für Jugendliche ab 16 Jahren in § 174 I StGB bejaht hat. Ausweislich des Sachverhalts gibt C auch wieder, dass die Ansteckungsgefahr beim einmaligen ungeschützten Geschlechtsverkehr nicht „sehr hoch“ ist. Dies entspricht jedenfalls auch der überwiegenden Ansicht in der medizinischen Literatur, sodass davon auszugehen ist, das C mindestens genauso viel Sachwissen besitzt, wie der A.

C hätte auch zu jederzeit den Geschlechtsverkehr ablehnen können. Es wurde keinerlei Druck von A ausgeübt. Damit ist von der Tatherrschaft der C auszugehen. Damit liegt eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vor. Der Tatentschluss ist abzulehnen.

III. Ergebnis

A hat sich nicht gem. §§ 223, 224 I Nr. 1 Alt. 2, Nr. 5, II, 22, 23 I StGB strafbar gemacht.

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Vielen Dank an Sinan Akcakaya (Dipl.iur.) für die Zusendung dieses Falls!

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Kommentare

paul207
Mo, 11/02/2019 - 09:40

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