IV. Die Verkehrspflichten: Funktion, systematische Stellung, Begründung

Verkehrspflichten werden in einem Deliktstatbestand im Rahmen des Handlungsbegriffs wichtig: Ein Unterlassen steht der Erfolgsherbeiführung durch aktives Tun nur gleich, wenn der Haftende zur Erfolgsabwendung verpflichtet ist. In Betracht kommt hier die allgemeine Grundpflicht, sein Verhalten im Verkehr so auszurichten, dass andere nicht gefährdet werden (die Verkehrspflicht ähnelt einer Garantenpflicht).

Die Begründung der Verkehrspflicht folgt aus dem Verbot des venire contra factum propium. Der, der willentlich einen Verkehr eröffnet, muss für die Gefahrlosigkeit des Verkehrs sorgen. Verkehrspflichten werden aber auch durch die bloße Teilnahme an einem bereits bestehenden Verkehr und damit die Einwirkung auf diesen begründet.

Beispiel:
Schrotthändler S lagert auf einem riesigen Grundstück etliche Kfz-Einzelteile. Das Grundstück ist umzäunt, sodass Unbefugte es nicht betreten können. Einmal vergisst S, das Grundstückstor zu verschließen. Als die spielenden Kinder A und B am Grundstück des S vorbeikommen, sehen sie das Tor offenstehen und schleichen sich hindurch, um auf dem Grundstück auf die Berge aus Schrott zu klettern. Dabei rutscht A aus und verletzt sich schwer. Hier hat S dafür zu sorgen, dass durch die von ihm gelagerten Kfz-Einzelteile niemand zu Schaden kommt, indem er den Zugang zu diesen versperrt. Diese Verkehrspflicht hat er fahrlässig durch das Offenstehenlassen der Tür verletzt.

Achtung: Hinsichtlich von Erwachsenen gilt der Vertrauensgrundsatz, d.h. S darf sich darauf verlassen, dass Erwachsene nicht rechtswidrig in ein umzäuntes Grundstück eindringen. Bei Kindern gilt dieser Grundsatz nicht. Aber: S ist nur dann ersatzpflichtig, wenn das Eindringen von Kindern wahrscheinlich (also mehr als nur adäquat) ist, z. B. wenn das Grundstück neben einem Kindergarten liegt und auf dem Nachhauseweg viele Kinder daran vorbeikommen. Nicht jedoch, wenn es inmitten eines Industriegebiets liegt und mit dem Auftauchen von Kindern nicht zu rechnen ist.

Verkehrspflichten sollen den Vorwurf einer rechtswidrigen Erfüllung auf einen wesentlich engeren Personenkreis beschränken, als er durch die Adäquanztheorie bestimmt wird. Aus dieser Funktion folgt, dass die Verkehrspflichten in der haftungsbegründenden Kausalität zu prüfen sind, und zwar innerhalb der adäquaten Zurechnung zu einer bestimmten Person. Ist die Adäquanz bejaht, ist die Rechtswidrigkeit indiziert.

Zu prüfen ist dann die subjektive Vorwerfbarkeit.

Die Verkehrspflicht ist nicht leicht von dem Verschulden in Form der Fahrlässigkeit abzugrenzen, denn die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) deckt sich weitestgehend mit dem Inhalt der Verkehrspflicht. Der Unterschied liegt darin, dass bei der Fahrlässigkeit gefragt wird, aus welchen subjektiven Gründen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt objektiv nicht erfüllt worden ist.

Gesetzlich geregelte Fälle von Verkehrssicherungspflichten finden sich in den §§ 831 – 838 BGB und wurden von der Rechtsprechung insbesondere für die Produkthaftung entwickelt.