Der Anachronistische Zug (BverfGE 67, 213)

Der Anachronistische Zug (BverfGE 67, 213) / Böhmermann-Fall

Sachverhalt

Während des Bundestagswahlkampfes im Jahre 1980 veranstalteten die politischen Gegner des damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß ein Straßentheater. Franz Josef Strauß war zu dieser Zeit Kanzleikandidat der CDU/ CSU. Dieses initiierte Straßentheater hatte das Gedicht „Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“ Bertolt Brechts zum Vorbild.

Kritisiert werden sollte die immer noch herrschende Ideologie der Nazizeit in der Bundesrepublik. 

Das Straßentheater bestand aus einem Zug mit mehreren Wagen, wie man sie aus der Faschingszeit kennt. Auf dem letzten „Plagenwagen“ wurden sechs Plagen in Gestalt von Nazigrößen dargestellt. Auch Franz Josef Strauß wurde als Figur eingebunden. Immer wenn ein Stichwort genannt wurde, z.B. „Unterdrückung“, erhob sich eine Figur, welche dann von der Franz Josef Strauß- Figur zurückgedrängt wurde. Zum Schluss erhoben sich alle sechs Nazigrößen und blickten auf die Figur des Franz Josef Strauß, sodass nur noch das von ihm hochgehaltene Schild mit „Freiheit und Democracy“ sichtbar blieb.

Franz Josef Strauß wurde dabei von A dargestellt. A wurde letztinstanzlich wegen Beleidigung (vgl. § 185 StGB) verurteilt. A wandte sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht.

Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers A Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitervermerk: Von der Verfassungsmäßigkeit des § 185 StGB ist auszugehen.

Die Fallhistorie

Wie bereits geschildert, spielt der Fall im Jahre 1980. Mit seiner Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht den Grundstein für die Tragweite der Kunstfreiheit gesetzt. Erste Instanz war das Amtsgericht Kempten. Aktuell kann der Fall aber auch wegen dem „Böhmermann-Fall“ wieder im Examen laufen.

Der Problemkreis

Kunstfreiheit, Art. 5 III Alt.1 GG / Versammlungsfreiheit, Art. 8 I GG/ Meinungsfreiheit Art. 5 I S. 1 GG/ Grundrechtskonkurrenzen

Lösungsskizze

Begründetheit

A. Verletzung der Kunstfreiheit aus Art. 5 III Alt. 1 GG

I. Schutzbereich

a. Persönlicher Schutzbereich

b. Sachlicher Schutzbereich

(P) Kunstbegriff

II. Eingriff

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

1. Schranke

(P) Anwendbarkeit der Schranke aus Art. 5 II GG? (-)

a. Verfassungsimmanente Schranken

hier: Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG

b. Konkretisierung durch einfaches Gesetz

hier : § 185 StGB (+)

2. Verfassungsmäßigkeit des § 185 StGB (+)

3. Verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall

Achtung: Bundesverfassungsgericht prüft nur spezifisches Verfassungsrecht

(keine „Superrevisionsinstanz“)

(P) Praktische Konkordanz 

IV. Ergebnis (+)

B. Verletzung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG

(P) Grundrechtskonkurrenz 

Art. 5 III GG wohl lex specialis gegenüber Art. 8 I GG

C. Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 GG

(P) Grundrechtskonkurrenz

Art. 8 I schützt kollektive Meinungsäußerung als lex specialis (Einzelfallspezialität) zu Art. 5 I S.1 GG

(P) Wiederaufleben der Meinungsfreiheit wegen Verdrängung durch Art. 5 III Alt.1 GG

wohl (-)

Endergebnis: Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet und hat Aussicht auf Erfolg.

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Gutachten

Begründetheit

Die zulässige Verfassungsbeschwerde müsste begründet sein. Dies ist der Fall, wenn der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. Das Bundesverfassungsgericht prüft hier nur spezifisches Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz.

Es kommt eine Verletzung von Grundrechten durch das letztinstanzliche Urteil in Betracht.

A. Verletzung der Kunstfreiheit aus Art. 5 III Alt. 1 GG
Der Beschwerdeführer A könnte in seinem Grundrecht aus Art. 5 III Alt. 1 GG verletzt worden sein. Dafür müsste der Schutzbereich eröffnet sein und es müsste ein Eingriff vorliegen, der nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.

I. Schutzbereich
Der Schutzbereich müsste eröffnet sein.

a) Persönlicher Schutzbereich
Art. 5 III Alt. 1 GG ist ein Jedermann- Grundrecht. A ist Jedermann, sodass der persönliche Schutzbereich eröffnet ist.

b) Sachlicher Schutzbereich
Fraglich ist, ob auch der sachliche Schutzbereich eröffnet ist. Nach Art. 5 III Alt. 1 GG wird „Kunst“ geschützt. Problematisch ist, was unter Kunst zu verstehen ist. Dies ist umstritten.

Nach dem formellen Kunstbegriff ist Kunst jede konventionelle und künstlerische Ausdrucksweise, die bei formaler und typologischer Betrachtungsweise einer Kunstgattung zugeordnet werden kann (Musik, Malerei, Bildhauerei). Nach dieser formellen Betrachtungsweise könnte hier der Straßenzug zwar der Schauspielerei zugeordnet werden, allerdings lässt sich dies in Bezug auf die künstlerische Gestaltung der Straßenwagen nicht genau abgrenzen.

Nach dem materiellen Kunstbegriff ist Kunst, jede freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden. 
Hier bringt A in schauspielerischer Weise zum Ausdruck, dass gesellschaftspoltische Probleme in Form von noch vorhandener Naziideologie vorherrschen. Nach dem materiellen Kunstbegriff ist hier das Vorliegen Kunst zu bejahen.

Nach dem offenen Kunstbegriff definiert sich Kunst stets selbst neu und einzelfallbezogen. Wegen der Mannigfaltigkeit des Aussagegehalts  muss es möglich sein, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt. Nach dem offenen Kunstbegriff wäre hier auch das Vorliegen von Kunst zu bejahen.
Gegen den formellen Kunstbegriff spricht, dass dieser die Kunst viel zu eng betrachtet und sich regelmäßig Schwierigkeiten bei der Auslegung ergeben, ob die vorliegende Kunst irgendeiner Gattung zugeordnet werden kann.
Der materielle Kunstbegriff fordert eine schöpferische Gestaltung, wobei sich wiederum das Problem ergibt, wie bestimmt werden kann was eine „schöpferische Gestaltung“ ist. Dies impliziert gerade, dass eine bestimmte Wertung vorgenommen werden muss. 
Der offene Kunstbegriff ist daher am überzeugendsten, da er wertneutral ist und Rücksicht auf sich entwickelnde Elemente nimmt. 
Geschützt wird zudem nicht nur das Werk (Werkbereich) als solches, sondern auch sein Wirkbereich. Hier ist also nicht nur die darstellerische Leistung des A geschützt, sondern der gesamte Straßenzug als Ausdruck eines Gesamtkonzepts.
Mithin liegt Kunst vor, sodass auch der sachliche Schutzbereich eröffnet ist.

II. Eingriff
Es müsste auch ein Eingriff vorliegen. Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht. Durch das letztinstanzliche Urteil wird dem A sein künstlerisches Verhalten, das in den Schutzbereich des Art. 5 III Alt.1 GG fällt, unmöglich gemacht. Damit liegt ein Eingriff vor.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Dies ist der Fall, wenn eine den Schrankenbestimmungen des Grundrechts entsprechende Schranke vorliegt, die ihrerseits verfassungsgemäß ist und im Einzelfall verfassungsgemäß angewandt wurde. 

1. Schranke
Es müsste eine Schranke vorliegen. Eine ausdrückliche Schranke enthält Art. 5 III Alt. 1 GG nicht. Fraglich ist, ob die Schranke aus Art. 5 II GG angewendet werden kann. Dagegen spricht jedoch schon die systematische Stellung. Die Schranke des Art. 5 II GG gilt nur für Art. 5 I GG. 

Fraglich ist, ob Art. 5 III Alt.1 GG schrankenlos gewährleistet werden kann. Bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten können verfassungsimmanente Schranken das Grundrecht beschränken. Nach einer anderen Ansicht soll hier vielmehr die Schrankentrias des Art. 2 I GG das Grundrecht beschränken. Dagegen spricht allerdings ebenfalls die Systematik des Art. 2 I GG.

Es ist danach zu fragen, ob hier ein kollidierendes Recht von Verfassungsrang vorliegt. In einem zweiten Schritt müsste dieses kollidierende Verfassungsrecht durch einfaches Gesetz konkretisiert worden sein.

a) Kollidierendes Verfassungsrecht
Als kollidierendes Verfassungsrecht kommt hier das allgemeines Persönlichkeitsrecht des Franz Josef Strauß aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG in Betracht. Neben der allgemeinen Handlungsfreiheit, schützt Art. 2 I GG auch die persönliche Integrität. Damit liegt ein kollidierendes Verfassungsrecht vor.

b) Gesetzliche Konkretisierung
Wie bereits verdeutlicht, müsste der Gesetzgeber dieses Verfassungsgut auch einfachgesetzlich konkretisiert haben. In Betracht kommt der § 185 StGB. Nach der Gesetzesbegründung schützt § 185 StGB die Ehre einer Person. Auch die Ehre ist als Ausformung der persönlichen Integrität als Rechtsgut von Verfassungsrang einzuordnen. Damit liegt auch eine gesetzliche Konkretisierung vor.

2. Verfassungsmäßigkeit des § 185 StGB
Der § 185 StGB müsste selbst verfassungsgemäß sein. Davon ist ausweislich des Bearbeitervermerks auszugehen.

[Anmerkung: Bei schon seit Jahrzehnten bestehenden Gesetzen kann die Verfassungsmäßigkeit unterstellt werden, solange der Sachverhalt keine Hinweise auch Probleme gibt. Etwas anderes gilt aber unbedingt bei fiktiven und neuen Gesetzen!]

3. Verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall
Fraglich ist, ob das kollidierende Verfassungsrecht im Einzelfall verfassungsgemäß angewendet wurde. 

Die verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall ist zu bejahen, wenn innerhalb der praktischen Konkordanz, die kollidierenden Verfassungsgüter so in Einklang gebracht wurden, dass beide Verfassungsgüter bestmöglich zur Geltung kommen können. Der Tatbestand der „Beleidigung“ innerhalb der verfassungsimmanenten Schranke muss also so ausgelegt werden, dass Art. 5 III Alt. 1 GG bestmöglich zur Geltung kommen kann (Wechselwirkungslehre).

Als Auslegungshilfe kann dabei der Rang des Grundrechts und die Intensität des Eingriffs herangezogen werden.

Gegen eine verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall kann sprechen, dass sich hier ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht (Art. 5 III Alt. 1 GG) einem Grundrecht mit Schrankenvorbehalt (Art. 2 I GG) gegenüber steht.

Wenn mehrere Deutungsmöglichkeiten der Kunstform vorliegen, dann muss im Zweifel diejenige zugrunde gelegt werden, die „kunstfreundlich“ ist und nicht den Beleidigungstatbestand erfüllt. Dafür spricht schon die Wertung des Art. 5 III Alt. 1 GG als schlichtweg konstitutives Grundrecht. Hier wollte A die noch vorherrschende nationalsozialistische Kontinuität in Deutschland anprangern. Ihm ging es primär nicht um die Ehrverletzung der Person Franz Josef Strauß. Auch ist zu berücksichtigen, dass Franz Josef Strauß als Kanzler kandidiert, sodass er auch scharfe Kritik hinnehmen muss. Es verbleibt bei der Gesamtbetrachtung also nicht alleine der Eindruck, dass Franz Josef Strauß mit nationalsozialistischem Gedankengut in Verbindung gebracht werden sollte.

Die Darstellung lässt auch die Deutung zu, dass Franz Josef Strauß durch eine misslungene Innenpolitik nationalsozialistisches Gedankengut ohne direkte Absicht gefördert hat.

Hier entnahm der Beschwerdeführer zudem die Idee zum Straßenzug einem Gedicht Bertolt Brechts, was die primäre künstlerische Motivation untermauert. Diese kunstgerechte Auslegung von § 185 StGB hat das Gericht jedoch nur unzureichend berücksichtigt. Damit liegt keine verfassungsgemäße Anwendung im Einzelfall vor. 

Somit kann der Eingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

[Anmerkung: Viele Klausuren sind an dieser Stelle schwammig. Nehmt den Korrektor an die Hand und präsentiert eine strukturierte Darstellung der praktischen Konkordanz.]

IV. Ergebnis
Damit liegt eine Verletzung von Art. 5 III Alt. 1 GG vor.

B. Verletzung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG
Es könnte eine Verletzung von Art. 8 I GG vorliegen. Fraglich ist jedoch, ob Art. 8 I GG im Wege der Spezialität von Art. 5 III Alt. 1 GG verdrängt wird. Hier liegt durch den Straßenzug eine gemeinsame künstlerische Betätigung i.S.d. Art. 5 III Alt. 1GG vor, sodass diese spezieller zu Art. 8 I GG ist (a.A. vertretbar)

C. Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 GG
Auch in Bezug zur Meinungsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 GG stellt sich die Frage nach der Grundrechtskonkurrenz. Auch Art. 8 I schützt die Meinungsäußerung (kollektive Meinungsäußerung), wenn sich mehrere Personen zur Meinungsäußerung versammeln. Fraglich könnte sein, ob Art. 5 I S. 1 GG dadurch wiederauflebt, dass Art. 8 I GG wiederum von Art. 5 III Alt. 1 GG verdrängt wird. Dies ist hier jedoch abzulehnen, da dies der Systematik der Grundrechtskonkurrenzen widersprechen würde. Der Beschwerdeführer macht hier die Verletzung von Art. 5 III Alt. 1 GG geltend, der in diesem Einzelfall spezieller zur einfachen Meinungsäußerung aus Art. 5 I S. 1 GG ist (Einzelfallspezialität).

[Anmerkung: Das Problem muss nicht so weit ausgebreitet werden. Auch das Bundesverfassungsgericht lässt diese Konkurrenzen offen und stellt nur auf die Verletzung der Kunstfreiheit aus Art. 5 III Alt. 1 GG ab.]

Endergebnis: Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet und hat Aussicht auf Erfolg.

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  Vielen Dank für die Zusendung dieses Falls  an  (Dipl.iur.) Sinan Akcakaya!

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