I. Der Grundsatz "Auslegung vor Anfechtung"

Eine Irrtumsanfechtung kommt nur dann in Betracht, wenn das Erklärte und das Gewollte sich nicht decken und dies durch Auslegung im Vorfeld ermittelt wurde – es gilt der Grundsatz „Auslegung vor Anfechtung“.1

1. Abgrenzung zum Dissens

Eine Anfechtung kommt dem Grunde nach nur dann in Frage, wenn feststeht, dass der objektive Erklärungsinhalt beider Vertragsparteien übereinstimmt und eine Einigung vorliegt. Fehlt es an einer Einigung bzw. an einem Vertragsschluss, so fehlt es daher auch an der entsprechenden Voraussetzung für eine Anfechtung.2

Die Möglichkeit zur Anfechtung muss demnach zu den Fällen abgegrenzt werden, in denen zwischen den Parteien (noch) keine Einigkeit erzielt wurde, ob nun bewusst (offener Dissens) oder unbewusst (versteckter Dissens).3 Dies ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, wobei alle Umstände im jeweiligen Einzelfall sorgfältig zu würdigen sind.4.

Schwierigkeiten in der Abgrenzung bereitet vor allem der versteckte Dissens. Ein solcher liegt grundsätzlich vor, wenn man im Wege der Auslegung zu dem Ergebnis kommt, dass sich die beiden Erklärungen im Hinblick auf ihren Inhalt objektiv nicht decken, obwohl die Parteien subjektiv von einer Einigung ausgehen.5 Anders gesagt: Die Parteien haben sich tatsächlich nicht geeinigt, obwohl sie innerlich von einer Einigung ausgehen.

Man könnte daher auch sagen, dass sich die Parteien über die Einigkeit irren. Der Irrtum beim versteckten Dissens bezieht sich jedoch nicht auf die Einigkeit an sich, sondern auf die Erklärung des Gegenübers. Der Irrende ist fälschlicherweise der Meinung, dass die Erklärung des anderen Teils mit der eigenen Erklärung übereinstimmt. Hierin liegt zugleich ein gewichtiger Unterschied zum Irrtum im Rahmen der Anfechtung. Dieser bezieht sich nämlich gerade nicht auf die Erklärung des Gegenübers sondern auf die eigene Erklärung.6

2. Abgrenzung zur Falsa Demonstratio

Eine Anfechtung scheidet auch dort aus, wo sich durch Auslegung ergibt, dass das (tatsächlich) Gewollte und nicht das (irrtümlich) Erklärte als Inhalt der Erklärung gilt.7 Denn der Fehler, den das Recht der Anfechtung eigentlich ausgleichen will, ist im Vorfeld schon durch die Auslegung behoben worden. Erfasst werden hierdurch vor allem die Fälle, in denen die Parteien ihren Willen nur unrichtig zum Ausdruck gebracht haben, sich aber gleichwohl über das in Wirklichkeit Gewollte einig sind (Falsa demonstratio non nocet).8

Als klassisches Beispiel dient der sogenannte Haakjöringsköd - Fall (RGZ. 99, 147)9, bei dem sich die Parteien auf den Verkauf von 214 Fässern Haakjöringsköd verständigt hatten. Beide gingen hierbei davon aus, dass es sich bei Haakjöringsköd um Walfischfleisch handelte, obwohl Haakjöringsköd tatsächlich Haifischfleisch bedeutet. Da die Parteien jedoch unabhängig von einander den Verkauf bzw. Kauf von Walfischfleisch gemeint und auch gewollt hatten, kam ein Vertrag über Walfischfleisch nach dem Prinzip „falsa demonstratio non nocet“ zu Stande („die falsche Bezeichnung schadet nicht“).

  • 1. Köhler § 7 Rn. 15; Schulze/Dörner § 119 Rn. 4.
  • 2. Soergel/Hefermehl § 119 Rn. 18; Bamberger/Roth/Wendtland § 119 Rn. 19.
  • 3. vgl. zum Dissens „§§ 145 ff. BGB – F. Konsens und Dissens“
  • 4. Palandt/Ellenberger § 119 Rn. 8.
  • 5. Bamberger/Roth/Wendtland § 119 Rn. 19.
  • 6. Palandt/Ellenberger § 119 Rn. 8; Soergel/Hefermehl § 119 Rn. 18.
  • 7. Erman/Palm § 119 Rn. 4.
  • 8. Soergel/Hefermehl § 119 Rn. 19.
  • 9. RGZ 99, 147 ff.