D. Vertragschluss durch sozialtypisches Verhalten

Die Vertreter der so genannten Lehre vom sozialtypischen Verhalten oder auch faktischen Vertrag hatten die Ansicht, dass Verträge in der modernen Massengeschäftskultur ohne die Abgabe von Willenserklärungen, nur durch sozialtypisches, also tatsächliches Verhalten zustande kommen sollen. Ohne Willenserklärungen gäbe es bei diesen Geschäften auch keine Vorschriften über Anfechtung oder Geschäftsfähigkeit, womit man tägliche Geschäfte zu vereinfachen versuchte. Damit konnte man zwei Probleme lösen, die seit jeher Schwierigkeiten bereiteten: Zum einen sollte ein Minderjähriger, der ohne das Wissen seiner Eltern eine Leistung entgegen nimmt, z.B in die Straßenbahn einsteigt, dazu verpflichtet sein, die Gegenleistung, also hier den Fahrpreis zu bezahlen. Des weiteren soll derjenige, der eine Leistung in Anspruch nimmt, obwohl er bei Inanspruchnahme erklärt, er wolle die Leistung nicht haben und bezahle sie auch nicht, dazu verpflichtet sein, die Gegenleistung zu erbringen. Dies ist beispielsweise der Fall bei bewachten Parkplätzen, wenn der geschäftsfähige Autofahrer sein Auto abstellt, aber dem Security erklärt, er möchte keine Bewachung und deshalb auch nicht dafür bezahlen.

Die Lehre vom Sozialtypischen Verhalten wird heute weitgehend abgelehnt. Das Gesetz verlangt für einen Vertragsschluss Angebot und Annahme (§§ 145 ff. BGB), es stützt also nicht den faktischen Vertrag. Außerdem ist die Inanspruchnahme einer Leistung meist sowieso als Willenserklärung zu verstehen. Ganz offensichtlich schließt der Minderjährige eben keinen Vertrag, wenn er ohne das Wissen seiner Eltern in die Straßenbahn einsteigt – somit entfällt auch der Anspruch auf Zahlung des Fahrpreises. Natürlich kann immer noch ein Anspruch aus § 812 BGB oder § 823 BGB in Betracht kommen. Derjenige, der sich mit seinem Auto auf einen bewachten Parkplatz stellt, bedeutet mit diesem Verhalten eine Handlung, die natürlich im Widerspruch zu seinem Willen steht. Problematisch ist deshalb die Lösung dieses Falles. Teilweise wurde von der Rechtsprechung1 in solchen Fällen ein faktischer Vertrag angenommen. Allerdings wird heute auf den objektiven Gehalt der abgegebenen Willenserklärung (Auffahren mit dem Auto auf den Parkplatz) abgestellt. Der Protest des Autofahrers wird als widersprüchliches Verhalten (protestatio facto contraria non valet) und nach § 242 BGB als unbeachtlich angesehen. Stellt der Fahrer sein Auto also ab, hat er dafür eine Gegenleistung zu zahlen.2
  • 1. BGHZ 21, 319
  • 2. Rüthers/Stadler, § 19, Rn. 32 ff.; Brox/Walker, Rn. 193 f.