§ 338 Nr. 5 StPO: Vorschriftswidrige Abwesenheit von Verfahrensbeteiligten

Autorin: Rechtsanwältin Vera Oldenburger

Abwesenheit während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung.

Sofern die Abwesenheit während eines nur unwesentlichen Teils der Hauptverhandlung stattgefunden hat, ist das „Beruhen“ = denkgesetzlich ausgeschlossen!

Voraussetzung ist, dass das Gesetz die Anwesenheit der jeweiligen Person vorschreibt:

  • § 230 I StPO: Angeklagter
  • §§ 140 ff. StPO: notwendiger Verteidiger
  • Richter/ StA
  • § 226 StPO = Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
  • § 185 GVG Dolmetscher
    Beachte: Verspätungen sind bei unwesentlichen Teilen der Hauptverhandlung in Ordnung (z.B. bisher hat nur die Belehrung von Zeuge + Sachverständigem stattgefunden)

Einzelne Personen:

a. Angeklagter

Begriff der “Anwesenheit“ bedeutet Verhandlungsfähigkeit!

Problem: keine Pausen bei längeren Sitzungen + Attestierte Konzentrationsschwächen
= Verstoß (+)

Beachte: Pausen sind keine wesentliche Förmlichkeit iSd. § 273 I StPO sodass die negative Beweiskraft des Protokolls nach § 274 S. 1 StPO nicht gilt. Pausen können aber durch Äußerungen bewiesen werden.

=> Eigenmächtiges Entfernen § 231 II StPO

Anwesenheit nicht erforderlich, wenn sich der Angeklagte nach seiner Vernehmung eigenmächtig entfernt und seine Anwesenheit nicht weiter erforderlich ist.

"Eigenmächtig“ bedeutet, es besteht kein Rechtfertigungs-/Entschuldigungsgrund für Abwesenheit
Problem: Angeklagter erklärt „das Theater“ nicht weiter mitzumachen und erklärt der weiteren Verhandlung fern zu bleiben. Am Tag der Verhandlung überkommt ihn ein Sinneswandel. Auf Taxifahrt zum Gericht passiert dann ein Unfall.

Ein „eigenmächtiges“ entfernen liegt nicht vor.
Anders im Falle eines „Selbstmordversuchs“/ sich selbst in Verhandlungsunfähigen Zustand versetzen.. Dann liegt ein „eigenmächtiges Entfernen“ vor (+).

Problem: In krankhaften Zustand hineinsteigern

„Eigenmächtig“ (+)
Ausnahme: nachvollziehbares Unwohlsein (plausible/naheliegende Folgen emotionaler Belastung)

=> Ausschluss des Angeklagten wegen störendem Verhalten § 231b I StPO:
Beschluss nach § 177 GVG zum Ausschluss des Angeklagten wegen störendem Verhalten erlassen und dem Angeklagten wurde Gelegenheit zur Äußerung hinsichtlich des Anklagevorwurfs gegeben, sofern eine weitere Anwesenheit nicht unerlässlich ist.

Problem: Beschluss enthält keine Begründung
Kann durch Protokollierung im Sitzungsprotokoll bewiesen werden.
Problem: Fehlender Beschluss
In Ordnung, wenn nur unwesentlicher Teil der Verhandlung betroffen ist.
Beispiel:
Verlesung der Urteilsformel erfolgt nach § 267 StPO durch mündliche Eröffnung der Urteilsgründe und stellt keinen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung dar.

=> Ausschluss des Angeklagten im Interesse der Sachaufklärung und aus Schutz von Zeugen/des Angeklagten selbst geboten § 247 StPO:

Muss durch Beschluss mit dem Inhalt nach § 247 StPO erfolgen.

Voraussetzungen:

S. 1: Konkrete Gefahr für die Wahrheitsfindung + Abwesenheit notwendig & unvermeidbar
= weit auslegen

Beispiel:
  • psychische Barriere
  • Befürchtung von Denunzierung im Bekanntenkreis
  • Angst vor sozialer Isolation
  • Ankündigung von Zeugnis-/Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen

S. 2: Gefahr schwerwiegender Gesundheitsnachteile
= schwere psychische Beeinträchtigung (+) <-> bloßes Unwohlsein (-)
+ hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Gesundheitsnachteile! Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus!
Auch vorübergehend (+)

S. 4: Sobald Angeklagter wieder anwesend ist, ist dieser über den wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während der Abwesenheit ausgesagt/verhandelt wurde.
Die nachträgliche Unterrichtung stellt eine wesentliche Förmlichkeit iSd § 273 I StPO dar und kann durch das Protokoll bewiesen werden.

Aber: Die nachträgliche Nichtunterrichtung ist nur ein relativer Revisionsgrund! Daher ist auch zu prüfen, ob das Urteil auf dem Fehler beruht.

Beachte: Ausschluss nur möglich bei Vernehmung von Zeugen oder Mitangeklagten!
Ein Ausschluss während anderer Beweisvorgänge mit selbstständiger Bedeutung ist nicht möglich.

b. Notwendiger Verteidiger § 140 StPO

Wahl- oder Pflichtverteidiger ist egal. Verteidigung muss aber notwendig sein.

Verteidiger ist notwendig wenn:

  • § 140 I Nr. 2: Angeklagtem wird formal Verbrechen „Zur Last gelegt“
    Ein tatsächliches Verbrechen ist nicht erforderlich (-)
    Maßgeblich ist die Anklage/Eröffnungsbeschluss/Nachtragsanklage und ein rechtlicher Hinweis § 265 I StPO
  • § 140 II S. 1: Wenn aufgrund der „Schwere der Tat“ eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr (auf Bewährung) zu erwarten ist.
    Auch bei Gesamtstrafe oder anderweitiger Nachteile:
  • Bewährungswiderruf § 56 f. StGB
  • „Schwierigkeit der Rechtslage“ (wenn Rechtsfrage durch den BGH „geklärt“ ist, ist die Sache nicht schwierig!
  • Wenn sich Angeklagter nicht selbst verteidigen kann (Wenn Angeklagter nicht der deutschen Sprache mächtig ist, kann dieser sich trotzdem selbst durch Hinzuziehung eines Dolmetschers verteidigen.)
Problem: Verteidigung nicht notwendig, aber Wahlverteidiger vorhanden

Bei Abwesenheit kein absoluter, sondern nur ein relativer Revisionsgrund, sodass auch das „Beruhen“ zu prüfen ist.

Aber: An-/Abwesenheit des nicht notwendigen Wahlverteidigers ist keine wesentliche Förmlichkeit iSv § 273 StPO. Daher nur Freibeweis möglich!

Beachte: Wegen des Grundsatz des Fairen Verfahrens („fair trial“) ist bei Verspätungen aber eine angemessene Wartezeit und bei Ausbleiben des Verteidigers abweichend von § 228 II StPO eine Unterbrechung angezeigt. Abzuwägen ist dabei die Schwierigkeit der Sach- & Rechtslage, der Anlass des Ausbleibens sowie die Dauer der Verhinderung.

Prüfung:

a. Feststellung der Abwesenheit durch das Protokoll (= negative Beweiskraft § 274 S 1 StPO)

  • Bei fehlender Bestellung § 141 I StPO
  • während laufender Verhandlung § 141 II StPO ergeben sich Voraussetzungen von §140 StPO, trotzdem wird kein RA bestellt
  • § 145 I StPO gewählter/bestellter Verteidiger bleibt aus
  • Beachte: Ein bestellter Verteidiger kann nicht ohne weiteres ersetzt werden. Erforderlich ist die Sicherstellung der Kenntnis des Falles, um eine angemessene Verteidigung zu gewährleisten. Dazu ist u.a. auch ein gründliches Aktenstudium erforderlich.

  • „versteckte“ Abwesenheit: notwendiger Verteidiger wird als Zeuge vernommen:
    Für den Zeitraum der Vernehmung muss 2. Verteidiger beigeordnet werden! Ein Verzicht durch den Angeklagten ist nicht möglich!

b. Wesentlichkeit
(-)

  • Während der Belehrung von Sachverständigen und Zeugen
  • Die mündliche Eröffnung der Urteilsgründe § 267 StPO
(+)
  • Vernehmung der Zeugen zur Person (wegen der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen)