1. Rechtliche Voraussetzungen des Anfechtungsrechts aus § 123 BGB

a. Anfechtungsgrund

aa. Irrtum und arglistige Täuschung
Für beide Alternativen des § 123 BGB ist ein Irrtum des Anfechtungsberechtigten entscheidend. Worauf dieser sich bezieht, ist für § 123 BGB unerheblich. Entscheidend ist die Tathandlung des Anfechtungsgegners. Alt. 1 verlangt die arglistige Täuschung.

(a) Täuschung durch positives Tun oder Unterlassen bei Aufklärungspflicht

Definition: Eine Täuschung ist das Erregen oder Aufrechterhalten eines Irrtums über Tatsachen (vgl. Palandt/Ellenberger, § 123 Rn. 2), also objektiv nachprüfbarer Umstände und nicht bloß subjektiver Werturteile (BGH NJW 07, 357 u.a.). Diese Täuschung kann ausdrücklich sowie konkludent (positives Tun) oder durch Unterlassen erfolgen. Bei einem Unterlassen (Verschweigen), ist das Anfechtungsrecht begründet, wenn eine Rechtspflicht zur Aufklärung besteht (z. B. aufgrund überlegenen Wissens oder aus einer Vertrauensbeziehung, vgl. BGH LM Nr. 52, BGH NJW 89, 763).

Eine Aufklärungspflicht besteht grundsätzlich bei Fragen des anderen Teils (BGH 74, 383/92, NJW 67, 1222 u.a.). Hinsichtlich ungefragter Tatsachen besteht dagegen i.d.R. keine Aufklärungspflicht, es sei denn die ungefragte Tatsache ist für den anderen Teil von offensichtlich ausschlaggebender Bedeutung für die Willensbildung und der andere Teil kann sie sich bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt auch nicht ohne Weiteres selbst verschaffen (BGH NJW 71, 1799, 10 3362 Tz 22). Eine Aufklärungspflicht kann sich auch aus einem besonderen Vertrauensverhältnis ergeben (BGH NJW 92, 300). Bei Geschäften mit spekulativem Charakter besteht hinsichtlich des spekulativen Elements grundsätzlich keine Aufklärungspflicht (BGH LM Nr. 56).

(b) Arglist

Definition: Arglist bedeutet Vorsatz (nicht Absicht, vgl. BGH NJW 01, 2326, 07 3057 Tz 29). Der Vorsatz muss sich auf die Täuschungshandlung, den dadurch entstehenden Irrtum und die aufgrund der Täuschung abgegebene Willenserklärung des Getäuschten beziehen (s. c. Kausalität). Bedingter Vorsatz genügt, daher sind auch Angaben „ins Blaue hinein“ ausreichend (BGH 63, 382/86, NJW 81, 864, 1441 u.a.).

bb. Widerrechtliche Drohung
Die zweite Tathandlung verlangt eine widerrechtliche Drohung, § 123 Abs. 1 Alt. 2. BGB

Definition: Die Drohung ist das „in Aussicht stellen" eines empfindlichen Übels, auf dessen Eintritt der Drohende, Einfluss zu haben vorgibt (BGH 2, 287/95, NJW 88, 2599). Als Übel genügt jeder Nachteil (ob materiell oder ideell, s., BGH NJW 97, 1980, BAG NJW 94, 1021). Die Prüfung der Tathandlung aus § 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist identisch mit der Drohung aus § 240 StGB. Beachte auch hier das Vorsatzerfordernis: Der Drohende muss den Willen haben, den anderen Teil zur Abgabe einer Willenserklärung zu bestimmen und sich bewusst sein, dass sein Verhalten die Willensbildung des anderen auch beeinflussen kann (bedingter Vorsatz genügt; BGH LM Nr. 28).

Das Merkmal der Widerrechtlichkeit kann sich aus dem angedrohten Mittel, dem erstrebten Zweck oder der Zweck-Mittel-Relation ergeben (BGH 25, 217). Grundsätzlich berechtigen alle strafbaren oder sittenwidrigen Handlungen zur Anfechtung (Palandt/Ellenberger, § 123 Rn. 19). Die Willensbeeinflussung ist auch dann widerrechtlich, wenn Mittel und Zweck für sich betrachtet rechtmäßig sind, ihre Verbindung aber gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden i.S.d. § 138 BGB verstößt (dieses Mittel zur Erreichung diesem Zwecks, vgl. BGH 25, 217, NJW 83, 384, BAG NJW 70, 775).

cc. Kausalität
§ 123 Abs. 1 BGB verlangt für beide Tathandlungen Kausalität i.S.d. „condicio sine qua non-Formel“. Der täuschungsbedingte Irrtum bzw. die widerrechtliche Drohung muss für den Irrtum ursächlich geworden sein. Der Irrtum wiederum muss ursächlich für die Abgabe der Willenserklärung des Anfechtungsberechtigten sein.

    Kausalitätskette: Täuschung → Irrtum → Willenserklärung

Kausal bedeutet, dass der Getäuschte / Bedrohte die Willenserklärung ohne Tathandlung des § 123 Abs. 1 BGB überhaupt nicht, mit einem anderen Inhalt (BGH NJW 64, 811), oder zu einem anderen Zeitpunkt (BGH 2, 287/99) abgegeben hätte (BGH NJW 15, 158 Tz. 11). Mitursächlichkeit ist ausreichend, d.h. die Täuschung oder Drohung ist eine von mehreren Ursachen und beeinflusst die Entscheidung mit (BGH 2, 287/99).

dd. Person des Täuschenden
Die Person des Täuschenden ist für das Anfechtungsrecht teilweise entscheidend. Während bei nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen (Auslobung, Annahme nach § 151 BGB) die Person des Täuschenden egal ist und immer ein Anfechtungsrecht besteht (Palandt/Ellenberger, § 123 Rn. 12), wird bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen hinsichtlich des Anfechtungsrechts unterschieden:

(a) Täuschung durch Erklärungsempfänger oder Hilfspersonen
Bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen besteht ein Anfechtungsrecht immer dann, wenn der Erklärungsempfänger oder eine Hilfsperson getäuscht hat. Hilfspersonen sind Vertreter und solche Personen, die mit Wissen und Wollen des Erklärenden bei der Vertragsanbahnung für ihn tätig werden. Die Täuschung wird als vorvertragliches Verschulden i.S.d. § 311 BGB nach § 278 BGB dem Erklärungsempfänger zugerechnet.

(b) Täuschung durch Dritte, § 123 Abs. 2 BGB
Wird die Täuschung von einem Dritten verübt, besteht nur dann ein Anfechtungsrecht, wenn der Erklärungsempfänger die Täuschung kannte oder hätte kennen müssen. § 123 Abs. 2 S. 1 BGB trifft für die arglistige Täuschung also einen Interessenausgleich.

    Erklärungsempfänger = Anfechtungsgegner (der durch die Anfechtung Betroffene)

„Dritter“ i.S.d. § 123 Abs. 2 S. 1 BGB ist weder der Erklärungsempfänger noch eine Hilfsperson. Mit Kennenmüssen ist die fahrlässige Unkenntnis gemeint, vgl. § 122 Abs. 2 BGB.

Begründet die Erklärung unmittelbar ein Recht für einen Dritten (Vertrag zugunsten Dritter i.S.d. § 328 BGB), kann die Erklärung gegenüber dem Dritten angefochten werden (s. § 143 Abs. 2 BGB, vgl. b. Anfechtungserklärung), wenn der Dritte selbst getäuscht hat oder die Täuschung kannte oder kennen musste, vgl. § 123 Abs. 2 S. 2 BGB.

b. Anfechtungserklärung
Als Gestaltungsrecht muss die Anfechtung gegenüber dem Anfechtungsgegner (oder dem Dritten, s. § 123 Abs. 2 S. 2 BGB) erklärt werden, § 143 BGB.
c. Kein Ausschluss des Anfechtungsrechts

aa. Frist
Für das Anfechtungsrecht aus § 123 Abs. 1 BGB gilt nicht die kurze Ausschlussfrist des § 121 BGB, sondern die Frist in § 124 BGB: Das Anfechtungsrecht besteht im Falle der arglistigen Täuschung ein Jahr nach Entdeckung der Täuschung durch den Anfechtungsberechtigten, im Falle der widerrechtlichen Drohung mit Ende der Zwangslage.

Es gilt der fristgerechte Zugang der Anfechtungserklärung, nicht die fristgerechte Abgabe (§ 121 Abs. 1 S. 2 BGB gilt weder direkt noch analog).

Gem. § 143 Abs. 3 BGB ist das Anfechtungsrecht zehn Jahre nach Abgabe der Willenserklärung ausgeschlossen (Höchstfrist des § 123 Abs. 1 BGB).

bb. Treu und Glauben
Das Anfechtungsrecht kann aus Gründen des § 242 BGB ausgeschlossen sein. Dies ist im Einzelfall zu bestimmen. Anders als bei § 119 BGB muss sich der Anfechtungsberechtigte aber nicht auf das Rechtsgeschäft verweisen lassen, zu dem er ohne Täuschung oder Drohung bereit gewesen wäre. Andernfalls käme der Erklärungsempfänger in den Genuss eines modifizierten Vertrages, was nicht interessengerecht ist.

d. Rechtsfolgen

Der Vertrag gilt als von Anfang an nichtig (ex tunc) gem. § 142 Abs. 1 BGB. Die Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB löst keine Schadensersatzpflicht des Erklärenden aus.

e. Konkurrenzen

Zwischen der arglistigen Täuschung:

  • und § 119 BGB besteht ein Wahlrecht. Die Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB ist aufgrund der längeren Anfechtungsfrist in § 124 BGB vorzugswürdig (nach § 121 BGB muss „unverzüglich“ angefochten werden, d.h. ohne schuldhafte Verzögerung).
  • und Sachmängelansprüchen des Kaufrechts gem. §§ 437 ff. BGB besteht nach h.M. ebenfalls ein Wahlrecht (anders als bei Anfechtung nach § 119 Abs. 1 BGB). Argument: Der arglistig Täuschende ist nicht schutzbedürftig.
  • und c.i.c.: nach h.M. bestehen beide Ansprüche nebeneinander.

Zwischen der widerrechtlichen Drohung:

  • zu c.i.c.: s. Täuschung.
  • und Schadensersatz aus unerlaubter Handlung gem. §§ 823 ff. BGB: Beide Ansprüche bestehen nebeneinander.