2. Willenserklärung unter Abwesenden
Zu den Willenserklärungen unter Abwesenden schreibt das BGB in § 130 Abs. I, S. 1 BGB knapp: „Eine Willenserklärung die einem anderen gegenüber abzugeben ist, wird, wenn sie in dessen Abwesenheit abgegeben wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ihm zugeht…“. Schauen wir uns zur Abgabe und dem Zugang der Willenserklärung unter Abwesenden einige Problemstellungen an:
Beispielfall J: Zacharias Zögerlich (Z) ist Eigentümer einer Fabrik für Gummihühner mit eingebauten Karabinerhaken und benötigt eine neue Ladung Gummihühner. Dazu hat er sich mit Gerda Gummi (G), die entsprechende Hühner herstellt, über die Bestellung einer großen Menge verständigt. Z hat schon den Brief mit der Erklärung zum Abschluss des Vertrags aufgesetzt, als er doch anfängt über die Bestellung bei G zu zweifeln. Er lässt den Brief, noch nicht unterschrieben, auf seinem Tisch liegen und fährt nach Hause. Sein Sekretär Paul Pingel (P) findet den Brief und schickt ihn gutgläubig an G.
Beispielfall K – Abwandlung von J: Z unterschreibt den Brief, P schickt ihn ohne sein Wissen ab.
Frage zu J und K: Kann G Kaufpreiszahlung und Abnahme der Gummihühner verlangen?
Beispielfall L: Z unterschreibt den Brief und lässt ihn über P direkt an G am 10.04. weiterleiten. Diese befindet jedoch seit 08.04. im Urlaub. Während ihres Urlaubes trifft sie Berta Blitzschnell (B), mit der sie am 11.04 einen Kaufvertrag über die Gummihühner abschließt. Zuhause angekommen verweigert sie dem Z die Lieferung der Gummihühner mit Verweis auf den neuen Vertrag mit B. Zu Recht?
Die Willenserklärung unter Abwesenden stellt unter Abgrenzung der Erklärung unter Anwesenden, diejenige Form der Kommunikation dar, bei welcher die Parteien nicht unmittelbar aufeinander reagieren (können). Hierunter fallen generell der Schriftverkehr per Post oder elektronischen Mitteillungen, das Sprechen auf den Anrufbeantworter oder platzierte Zettel. Auch ein dem Gegenüber abgegebener Brief fällt unter diese Form.1 Bei der Wirksamkeit der Willenserklärungen wird hier in besonderer Weise auf die Empfangs- oder Zugangstheorie abgestellt, d.h. jede Nachricht, die dergestalt in den Machtbereich des nicht-anwesenden Empfängers gelangen konnte, dass eine Kenntnisnahme unter normalen Voraussetzungen möglich ist und eine Kenntnisnahme unter normalen Umständen auch zu erwarten ist, gilt als wäre Zugang und Kenntnisnahme tatsächlich eingetreten, auch wenn dies nicht der Fall ist.
Im Beispielfall J ist es fraglich ob Z hier durch P eine wirksame Willenserklärung abgegeben hat, da die Formulierungsphase hier ohne die Unterschrift des Z nicht abgeschlossen ist. Hier wird es schwer Z ein Erklärungsbewusstsein, und auch nur ein potentielles, zu unterstellen. Im Fall K dagegen ist die Phase der Formulierung mit der Fertigstellung des Briefs dagegen abgeschlossen. Jedoch ist fraglich ob eine Abgabe durch Z stattfand, da ja der Brief ohne sein Wissen und Wollen in Richtung G abgeschickt wurde. Je nach vertretener Auffassung (siehe oben) kann man jetzt zu unterschiedlichen Rechtsfolgen kommen: Nach der Theorie von der Analogie zum potentiellen Erklärungsbewusstsein ist nur eine fehlerhafte Willenserklärung des Z durch die ungewollte Abgabe des P zustande gekommen; diese würde sich im Wege der Anfechtung mit Ersatz des Vertrauensschadens bei G nach §§ 142,119 Abs. 1 iVm. § 122 BGB beseitigen lassen. Andernfalls wäre es auch vertretbar, das analoge Erklärungsbewusstsein abzulehnen. Eine Willenserklärung und damit ein Vertrag wäre so nicht zustande gekommen; jedoch hätte die G gegen Z einen Anspruch aus dem Schaden bei Vertragsverhandlungen (sogenannte „culpa in contrahendo“) nach §§ 311,242 Abs. 2 BGB der sich ebenfalls auf einen Ersatz des Vertrauensschadens beschränkt.
Im Beispielfall L ist über das Zustandekommen des Vertrags der Zugang der Annahme durch Z bei G entscheidend. Wir erinnern uns: Nach der Empfangs-oder Zugangstheorie tritt Kenntnisnahme und damit die Wirksamkeit der Willenserklärung dann ein, wenn die Erklärung (1) in den Machtbereich des Empfänger gelangt, (2) Kenntnisnahme unter normalen Umständen möglich ist, und (3) mit Kenntnisnahme unter normalen Umständen zu rechnen ist. Zugang wäre im Beispielfall L nach der herrschenden Meinung eingetreten, denn: Die Willenserklärung (der Brief des Z) ist bei G eingetroffen und damit ist die Kenntnisnahme auch möglich. Im Sachverhalt ist kein Wort zu finden, die eine Abweichung von den normalen Umständen rechtfertigen. Dass G eigenständig und ohne Absprache in den Urlaub gefahren ist, und so für sie persönlich die Kenntnisnahme nicht möglich war, ist nach dieser Theorie unbeachtlich. Sie muss die Annahme des Z gegen sich geltend lassen, der Vertrag mit ihm ist zustande gekommen, mit der Folge, dass sie verpflichtet ist, die Hühner zu übereignen
Nach der Vernehmungstheorie ist hingegen auf die persönliche Kenntnisnahme des Einzelnen abzustellen; diese wäre im Beispielfall nicht erfolgt, sodass der Vertrag alleine mit B abgeschlossen worden wäre.
- 1. Bork: Rn.: 605.