2. Die Möglichkeitstheorie

Einer früheren Ansicht zufolge, war der Eventualvorsatz nach der Möglichkeitstheorie schon dann zu bejahen, wenn der Täter die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung erkannte und dennoch handelte.1 Eine neuere, diesen Grundsatz konkretisierende Ansicht fordert insoweit einschränkend, dass der Täter, ausgehend von den Tatumständen und den kausalen Gesetzesmäßigkeiten die „konkrete Möglichkeit“ gehabt haben muss den Erfolgseintritt zu erkennen.2

Erklärend wird insbesondere die Herleitung des Begriffs über den Vorsatz angeführt. Aus § 16 StGB ergebe sich, dass der Vorsatz durch die Kenntnis der Tatbestandsmerkmale geprägt ist und dementsprechend derjenige, der in Nicht-Kenntnis handelt nur aus dem Fahrlässigkeitsdelikt zu bestrafen sei. Unter den Begriff der Kenntnis wird nicht nur das sichere Wissen des Täters subsumiert, sondern auch das unsichere Tatbewusstsein, also die unsichere Kenntnis der Tatbestandsmerkmale. Darauf aufbauend ist vorsätzliches Handeln in Form des unsicheren Tatbewusstseins dann gegeben, wenn der Täter die gegenwärtigen oder auch künftigen Tatumstände für konkret möglich hält. Demgegenüber handelt der Täter fahrlässig, wenn er sich dieser Möglichkeit nicht bewusst ist – den Erfolgseintritt also nicht für möglich hält.3

„Konkret“ im Sinne dieser Lehre meint, dass dem Täter bestimmte Anhaltspunkte dafür gegeben sein müssen, dass sich die von ihm gesetzte Gefahr auch im Erfolg realisiert. Daraus folgt, dass sich die Vorstellung des Täters auf einen konkreten Kausalverlauf erstrecken muss. Daher ist es nicht ausreichend, wenn er lediglich davon ausgeht, der Erfolg trete in „irgendeiner“ Art und Weise, also abstrakt, ein.4

Vorsätzlich handelt also derjenige, der sich über das konkrete Risiko der Tatbestandserfüllung bewusst ist und dennoch zur Handlung schreitet. In diesem Fall kann der Täter nicht mehr darauf vertrauen, dass der Erfolgseintritt ausbleibt. Fahrlässig handelt also derjenige, der dieses konkrete Risiko in seinem Ausmaß aufgrund mangelnder Sorgfalt nicht erkennt.5

Da sowohl diese neuere Ansicht als auch die Ansicht über die Wahrscheinlichkeitstheorie die bloße Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung nicht genügen lassen und dahingehend eine konkrete Einschätzung der Situation verlangen, bestehen zwischen den Ansichten lediglich terminologisch Unterschiede.6 Dennoch stößt auch die Möglichkeitstheorie auf kritische Stimmen.7

So wird sie häufig mit der Begründung abgelehnt, dass somit der Bereich des Eventualvorsatzes viel zu weit in Richtung auf die bewussten Fahrlässigkeit ausgedehnt würde. Ferner wird auch hier, wie im Rahmen der Wahrscheinlichkeitstheorie, kritisiert, dass diese Ansicht vollständig auf ein voluntatives Vorsatzelement verzichtet und folglich der Beurteilung bestimmter Sachverhalte nicht gerecht werden kann, in denen der Täter die konkrete Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung zwar erkannt hat, jedoch nur aufgrund Leichtsinns handelt.8

Insoweit dient der Beispielfall, in dem der Täter, weil er noch pünktlich zur Arbeit kommen will, einen Lastwagen auch bei dichten Nebel überholt und infolge dessen einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem Menschen ums Leben kommen. Hier wird deutlich, dass dem Täter bestimmte Anhaltspunkte dafür gegeben waren, den Erfolgseintritt für konkret möglich zu halten. Würde man hier der Möglichkeitstheorie folgen, würde das dazu führen, dass der vorliegende Leichtsinn des Täters in einen Tötungsvorsatz umgedeutet werden würde.9

  • 1. zu dieser ursprünglichen Meinung: Schröder, FS Sauer, 207 (227ff.).
  • 2. Schmidhäuser, JuS 80, 241 (252).; ähnlich Kindhäuser, LPK, § 15, Rn. 112 iVm. 119; Frister, AT, 11, Rn. 25.
  • 3. Schmidhäuser, JuS 80, 241 (252).
  • 4. Kindhäuser, LPK, § 15, Rn.113.; Kindhäuser, AT, § 14, Rn. 16.
  • 5. Kindhäuser, LPK, § 15, Rn. 119.
  • 6. Kindhäuser, LPK, § 15, Rn. 114.
  • 7. Wessels/Beulke, AT, § 7, Rn. 217.; Rengier, AT, § 14, Rn. 22.
  • 8. ähnlich, Geppert, Jura 01. 55 (56).; Rengier, AT, § 14, Rn. 22.; Wessels/Beulke, AT § 7, Rn. 217.; ähnlich kritisch auch Anm. Schroth, JR 03, 248 (252).
  • 9. Wessels/Beulke, AT, § 7, Rn. 217.