1. Hypothetische Ersatz- und Reserveursachen

a) Der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (Das Verbot der Einbeziehung hypothetischer Kausalverläufe)

Das Problem der Hypothetische Ersatz- und Reserveursachen stellt sich insbesondere bei der Anwendung der Äquivalenztheorie. In diesem Kontext sind Fälle zu nennen, in denen trotz des Hinwegdenkens der Handlung der Erfolg dennoch eintritt.

Beispiel: Der von A tödlich getroffene O wäre auch ohne den Schuss des A gestorben, weil B in dem Pkw des O eine Autobombe installiert hatte.1 Es wird deutlich, dass, wenn man die Handlung des A, das Schießen auf den O hinwegdenken würde, dieser durch die Autobombe des O trotzdem gestorben wäre. In derartigen Fällen könnte man eine Kausalität also leichthin verneinen, was zu unangemessenen Ergebnissen führen würde.

Daher ist dem Zusatz der Formel über die Äquivalenztheorie besondere Bedeutung zuzumessen, dass insbesondere der konkrete Erfolg bei Hinwegdenken der Handlung entfallen müsste, um eine Kausalität bejahen zu können. Maßgeblich ist folglich nur die Verbindung zwischen der tatsächlichen Handlung und dem konkreten Erfolg (mit den Mitteln X Y, am Ort X Y usw.). Daraus folgt, dass das spätere Eintreten des Erfolges in einer anderen als der konkreten Gestalt einer Kausalität nicht entgegen stehen würde.2

Dies lässt sich mit dem Grundsatz umfassen, dass ein Hinzudenken solcher „Ersatz – oder Reserveursachen“, die an Stelle der hinweggedachten Handlung wirksam geworden wären, unzulässig ist. Hypothetische Kausalverläufe werden demnach nicht berücksichtigt.3

So entscheidet auch der BGH, in dem er konstatiert: „Eine Handlung kann auch dann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der konkrete Erfolg entfiele, wenn die Möglichkeit oder die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ohne die Handlung des Täters ein anderer eine – in Wirklichkeit jedoch nicht geschehene – Handlung vorgenommen hätte, die ebenfalls den Erfolg herbeigeführt haben würde“.4

Darüber hinaus sei es ausreichend, dass die Handlung den Eintritt des Erfolges lediglich beschleunigt. Begründet wird dies damit, dass durch den früheren Erfolgseintritt der eigentlich später eintretende Erfolg nicht mehr eintreten kann, er also verdrängt bzw. überholt wird. Beispielhaft sei hier der tödliche Schuss auf ein bereits todkrankes Opfer anzuführen.5

Dass hier eine Kausalität zu bejahen ist, liegt zum einen daran, dass eine Beschleunigung grundsätzlich ausreicht. Zum anderen an der richtigen Anwendung des bereits Gesagten. Dh. dass die tödliche Erkrankung eine Ersatzursache darstellt, die ihrerseits auch zum Tod als Erfolg führen würde, dessen Beachtung jedoch unzulässig ist.6

b) Abbruch rettender Kausalverläufe (Das Gebot des Hinzudenkens rettender Kausalverläufe)

Innerhalb des Problemkreises der hypothetischen Ersatz- und Reserveursachen, spielt auch der Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs eine Rolle. Bricht also jemand einen „auf das Opfer zulaufenden“ rettenden Kausalverlauf ab, könnte der Täter auch dann kausal für den Erfolg gewesen sein, obwohl dieser keinen Kausalverlauf eigens in Gang gesetzt hat.7 Verhindert also A beispielsweise, dass der zu ertrinken drohende E den Rettungsring erreicht, in dem er ihn zerstört8, könnte die Handlung (genauer: die Verhinderungshandlung = das Zerstören) kausal für den Erfolg gewesen sein. Nach Anwendung der Äquivalenztheorie ist dies anzunehmen. Hätte nämlich A den Rettungsring nicht zerstört (= Bedingung), und damit nicht den rettenden Kausalverlauf abgebrochen, hätte E überlebt.

Problematisch ist jedoch, dass oben festgestellt wurde, dass hypothetische Kausalverläufe nicht zu berücksichtigen sind. Die Konsequenz aus einer entsprechenden Anwendung dieses Grundsatzes auch auf solche Fälle des Abbruchs rettender Kausalverläufe wäre, dass die etwaige Rettung durch den Rettungsring unbeachtlich bleiben müsste, da sie tatsächlich noch nicht zur Rettung geführt hatte. Dann wäre E jedoch auch bei hinwegdenken der Abbruchshandlung eventuell gestorben.

Entgegen des oben Gesagten, ist daher ein Gebot des Hinzudenkens von rettenden (hypothetischen) Kausalverläufen anzuwenden.9 Um eine Kausalität zu bejahen ist daher grundsätzlich danach zu fragen, ob der Täter einen konkreten, auf das Opfer zulaufenden Kausalverlauf unterbricht, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Rettung des Opfers geführt hätte. Der Grundsatz über das Verbot des Hinzudenkens hypothetischer Kausalverläufe (s.o.) wird jedoch nicht unterlaufen, sondern lediglich präzisiert. Der tatsächliche Kausalverlauf wird nämlich nicht durch einen hypothetischen ersetzt, sondern lediglich ergänzt.10

Ein weiteres Problem stellt sich dann insbesondere bei der „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“, da diese Definition derart viel Spielraum zur Interpretation offen lässt, dass eine Konkretisierung bisweilen schwer fällt (vgl. für diesen Meinungsstreit den Artikel über: § 13 StGB Begehen durch Unterlassen (Unterlassungsdelikte). „Hypothetische Kausalität“.)

c) Zusammenfassung

Merke: „Verboten ist es nur, Ersatzursachen hinzuzudenken, die anstelle der wegzudenkenden Handlung wirksam geworden wäre. Geboten ist dagegen, solche Umstände hinzuzudenken, die den Erfolg verhindert hätten, wenn die Handlung nicht stattgefunden hätte“11

  • 1. nach Kühl, AT, § 4, Rn. 11.; Rengier, AT, § 13, Rn. 16.
  • 2. Wessels/Beulke, AT, § 6, Rn. 161.; Rengier, AT, § 13, Rn. 15f.
  • 3. BGHST 45, 270 (295).; BGHSt 2, 20 (24).; Kühl, AT, § 4, Rn. 12.; Wessels/Beulke, AT, § 6, Rn. 161.; Rengier, AT, § 13, Rn. 17.; Sch/Sch/Lenckner/Eisele, Vorbem. §§ 13ff., Rn. 80.; so auch Kühl, JA 09, 321 (325).
  • 4. BGHST 45, 270 (295).; BGHSt 2, 20 (24).
  • 5. Kühl, AT, § 4, Rn. 14.; idS. auch Wessels/Beulke, AT, § 6, Rn. 162.
  • 6. Kühl, AT, § 4, Rn. 14.
  • 7. Kühl, AT, § 4, Rn. 17.
  • 8. Rengier, AT, § 13, Rn. 19.
  • 9. Roxin, AT, § 11, Rn. 34.
  • 10. Rengier, AT, § 13, Rn. 19.; Roxin, AT I, § 11, Rn. 34.
  • 11. Samson, Strafrecht I, S. 21.; ebenso Roxin, § 11, Rn. 33.; Kühl, AT, § 4, Rn. 18.